Dokumentarfilm „Life, animated“: Disneypornos gibt es nicht
Ein autistischer Junge kommuniziert über Disneyfiguren mit seinen Eltern. Regisseur Roger Ross Williams zeigt ausschließlich starke ProtagonistInnen.
1994, als er fast drei ist, hört Owen Suskind auf zu reden, und stellt jegliche körperliche Kommunikation mit seinen Eltern ein. Die Eltern, ratlos, konsultieren die Ärzte und bekommen eine Diagnose: Autismus. „Manche Menschen mit Autismus fangen nie wieder an zu sprechen“, nimmt ihnen ein Mediziner den Mut – in den 90ern war man weit entfernt von differenzierteren Sichtweisen auf das breite Spektrum der Autismusstörungen.
„Unser Sohn verschwand“, erklärt Vater Ron Suskind, Journalist und Pulitzer-Preisträger im nach dessen Buch „Life, animated“ entstandenen gleichnamigen Dokumentarfilm, und meint damit Owens Rückzug in eine vermeintlich fremde, innere Welt. Vier Jahre später, in denen ihr Sohn nicht geredet und täglich Disney-Animationsfilme auf Video geschaut hat, spricht Owen nach einer Geburtstagsparty seines älteren Bruders plötzlich seinen Vater an: „Walter will nicht groß werden. Wie Mogli oder Peter Pan“, sagt er.
So stellen die Eltern fest, dass man mit Owen kommunizieren kann – Owen, Disneyfanatiker seit frühester Kindheit, zitiert Szenen und Charaktere aus den Filmen, um emotionale Zustände und Situationen zu beschreiben.
Fortan nehmen die Eltern über eine Handpuppe des Papageis Jago, einem Sidekick aus der 1992 entstandenen Disneyproduktion „Aladdin“, mit ihrem Sohn Kontakt auf – denn dieser, so stellt sich in dem oscarnominierten Dokumentarfilm von Roger Ross Williams heraus, bevorzugt die Nebenfiguren, die Helden oder Heldinnen helfen, ihre Mission zu erfüllen: Jago, Zazu (aus dem „König der Löwen“), oder Sebastian (aus „Die kleine Meerjungfrau“).
Regisseur Williams zeigt in seinem Film ausschließlich starke ProtagonistInnen – Owen selbst, inzwischen Mitte 20, ist ein lauter, mitreißender junger Mann geworden, ein Autismus-Aktivist, dessen Herz noch immer den Disney-Sidekicks gehört. Seine Eltern können berührend und lebendig erzählen. Zudem nutzt Williams private Videoaufnahmen vom Aufwachsen Owens, auf denen man die Entwicklungsstörung erkennen kann, miterleben kann, wie aus dem kleinen lockigen Jungen mit dem offenen Gesicht ein verschlossenes Kind wird.
Empathie erzeugen
Viele von Autismusvarianten direkt oder indirekt Betroffene erzählen von ähnlichen Erfahrungen: dem Gefühl, den Autisten an eine fremde Welt verloren zu haben, zu der sie keinen Zutritt bekommen. Die große Stärke an Williams’ Film ist, dass er diese Welt erlebbar zu machen versucht – es ist eine animierte Welt, in der die HeldInnen zeichentricktypisch stark grimassieren und per eindeutiger Mimik kommunizieren.
Genau das mag auch der Grund für die bessere Lesbarkeit der übertrieben gezeichneten Filmsituationen für AutistInnen sein. Diese Theorie wissenschaftlich zu untersuchen, sie bei Bedarf noch mehr als bisher in mögliche Therapieformen einzubauen, kann und muss der Film jedoch nicht leisten. Stattdessen gelingt es ihm, für einen Einzelfall – vielleicht gibt es auch viele – jene Empathie zu erzeugen, die die Betroffenen dringend brauchen.
„Life, animated“. Regie: Roger Ross Williams, USA 2016, 92 Min.
Wie begrenzt die Disneywelt allerdings ist, macht Walter Suskind in einer Szene deutlich, in der er von der Beziehung seines Bruders zu einer Frau mit geistigem Handicap erzählt: „Die Filme enden damit, dass der Prinz die Prinzessin küsst“, erklärt er, „Owen weiß nicht, dass danach noch etwas folgen könnte, und Disneypornos gibt es nicht …“
Es bestünden auch andere Möglichkeiten, die Millionengewinne des für cleane Familienunterhaltung stehenden Disney Emporium, das für die Behindertenfreundlichkeit seiner Themenparks bereits im letzten Jahr den Preis einer britischen Autismusgesellschaft verliehen bekam, sinnvoll anzulegen: Gegen eine wohlgenährte Stiftung mit Disney-Logo im Namen hätte doch wohl niemand etwas einzuwenden.
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