Doku zu 40 Jahre „Rockpalast-Nacht“: Rock mit Schnauzer
Sechs Stunden Musik im TV, das würde es heute nicht mehr geben. Die ARD-Doku „40 Jahre Rockpalast-Nacht“ erinnert an eine legendäre Sendung.
Die Idee klang nicht besonders fernsehtauglich: Drei Rock-Konzerte hintereinander, sechs Stunden lang live im Ersten, mit einem Sendestart nach dem „Wort zum Sonntag“ und einem Ende am frühen Morgen. Ausgedacht hatten sich das Mitte der 70er Jahre der WDR-Redakteur Peter Rüchel und der Regisseur Christian Wagner.
Heute kämen sie mit so einem Konzept nicht mal am Pförtner vorbei, damals aber stieß der Vorschlag der beiden auf Interesse – und am 23. Juli 1977 stieg in der Essener Grugahalle die erste „Rockpalast-Nacht“ mit Auftritten von Rory Gallagher, Little Feat und Roger McGuinn’s Thunderbyrd. Die sehenswerte Doku „40 Jahre Rockpalast-Nacht – I’ve lost my mind in Essen“ (Nacht auf Sonntag, 0.40 Uhr, Das Erste) von Oliver Schwabe erinnert an die Konzertreihe, die bis 1986 zweimal pro Jahr lief und nicht nur Fernsehgeschichte schrieb.
„Die Rockpalast-Nächte hatten einen großen Einfluss auf die Entwicklung der Musikkultur hierzulande“, sagt Schwabe. „Es standen regelmäßig Künstler auf der Bühne, die in Deutschland kaum jemand kannte, deren Musik nicht dem Mainstream entsprach – und die dann hier zu Stars wurden.“ Für die Auswahl der Künstler waren allein Peter Rüchel und Christian Wagner zuständig, deren Vorlieben sich in der Sendung widerspiegelten. Mit ihnen sowie den Moderatoren Alan Bangs und Albrecht Metzger hat Oliver Schwabe erhellende Gespräche geführt, auch zahlreiche Musiker kommen zu Wort. Eine Stärke der Doku ist die exzellente Montage des Archivmaterials. Schwabe gelingt es in den kurzen 45 Minuten perfekt, den Geist der Rockpalast-Nächte darzustellen.
Aus heutiger Perspektive war daran nicht alles gut. Zu viel Gitarren-Gegniedel, zu viel Schweiß, zu viele junge Männer mit Schnurrbärten und Norweger-Pullovern. Auch besaß die Konzertreihe von Beginn an einen konservativen Macker-Touch. So startete sie in der Zeit, in der Punk alles umstieß, aber die Macher ignorierten diese musikalische Revolution bei den Konzert-Nächten.
"40 Jahre Rockpalast-Nacht – Ive lost my mind in Essen", ARD, Nacht auf Sonntag, 0.40 Uhr.
Trotz des Muffs wehte aber gleichzeitig auch ein Hauch von Anarchie durch die Sendung, es gab im gesetzten musikalischen Rahmen Experimentierfreude sowie den Mut zum Scheitern. Diese Mischung sorgte für große Fernseh-Momente, wie etwa das Backstage-Interview mit Mitch Ryder, der erst frühmorgens auftrat, die Wartezeit für den Genuss alkoholischer Getränke nutzte, das Publikum beschimpfte und dann ein legendäres Konzert gab.
Das Interesse der Sender schwindet
Mit solchen Szenen und mitreißenden Konzert-Schnipseln verweist die Doku unbeabsichtigt auch auf eine Leerstelle im heutigen Programm von ARD und ZDF, in dem Rock- und Popmusik bis auf wenige Ausnahmen nur eine Nebenrolle spielen. Man würde sich wünschen, dass für das pop- und rockinteressierte Publikum wie damals mal wieder jemand mit einer Idee um die Ecke kommt und diese über einen längeren Zeitraum ausprobieren darf.
Stattdessen liegt der musikalische Schwerpunkt seit Jahren auf den leidigen Neoschlager-Shows. Dass an zeitgenössischer Popmusik kein allzu großes Interesse bei ARD und ZDF besteht, bestätigt auch Oliver Schwabe.
„Musik-Dokus werden von den Öffentlich-Rechtlichen leider fast nur noch in Auftrag gegeben, wenn sie eine Retro-Perspektive haben“, sagt er. „Wenn das Thema also vor Jahren mal eine große Relevanz hatte und sich heute garantiert viele Zuschauer daran erinnern. Das hat seine Berechtigung, bringt auch gute Produktionen hervor, und ich beschäftige mich ja selber mit solchen Geschichten. Trotzdem wünsche ich mir von den Sendern eine größere Offenheit gegenüber neuen musikalischen Entwicklungen – auch gegenüber solchen, die noch nicht im Mainstream angekommen sind.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Eine Chauffeurin erzählt
„Du überholst mich nicht“
Kompromiss oder Konfrontation?
Flexible Mehrheiten werden nötiger, das ist vielleicht gut
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
SPD im Vorwahlkampf
Warten auf Herrn Merz
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern