Doku über Finanzkrise: Jugendlicher Frührentner
Die Doku "Der große Rausch" erzählt die Geschichte eines ausgestiegenen Investmentbankers (23.45 Uhr, ARD).
Seinen Master an der Universität von Sussex hat er in "Revolutionen" gemacht - man hätte es also kommen sehen können: Auftritt Geraint Anderson, studierter Historiker und Investmentbanker der besonderen Art. Anderson, Sohn eines Labour-Parlamentariers und einer Missionarin, hat der Londoner City und ihren Finanzjongleuren nach höchst erfolgreicher Laufbahn mit gerade mal 35 Jahren den Rücken gekehrt und der Branche letzten Sommer mit seinem Buch "City Boy - Beer and Loathing in the Square Mile" den Spiegel vorgehalten.
Was für eine prachtvolle Doku zur allgegenwärtigen Finanzkrise, dachte sich also auch die ARD. Was sie allerdings nicht daran hindert, den Film von Stephan Lamby zu einer Zeit auszustrahlen, wo Normalbürger im Bett liegen und Investmentbanker - jedenfalls laut Anderson - wahlweise in einer Nobelbar oder Lapdance-Klitsche hocken.
Der Fall Anderson macht Spaß: Treu erzählt der Mann, der mit dem akkuraten Kinnbärtchen haargenau wie Hunderte der Jungbanker aus der Londoner City und Canary Wharf aussieht, wie ihn seine Eltern nach einem Sabbatjahr in Indien gedrängt hätten, doch einen anständigen Beruf, "was Richtiges", zu machen. Anderson landet zuerst bei einer niederländischen Bank und macht in Wasserwerken, die gerade europaweit privatisiert und fusioniert werden. 2000 landet er nach einem Abstecher zur Commerzbank bei der Dresdner-Bank-Tochter Dresdner Kleinwort, wird gleich zwei Jahre hintereinander Analyst des Jahres und kassiert zum Gehalt noch Erfolgsboni in sechsstelliger Höhe. Was damals keiner weiß: Ab 2006 spießt Anderson für das an gut verdienende Pendler gerichtete Gratisblatt The Londonpaper in der Kolumne "City Boy" die Unarten und Absurditäten des Finanzgeschäfts und seiner Makler auf.
Doch so ganz sympathisch will einem der Mensch, den Lamby in seinem Film als Mischung aus modernem Heiligen und abgezocktem Abzocker präsentiert, zum Glück dann doch nicht werden: Als sich Anderson im Juni 2008 selbst enttarnt, hat er der City längst mit nach eigenen Angaben rund 2,5 Millionen Pfund den Rücken gekehrt und gibt den jugendlichen Frührentner. "Slick" heißt auf Englisch, wer sich besonders geschickt und unbarmherzig durchschlängelt, und Anderson ist slick.
Lambys Doku dagegen hat einige Schwächen: Sie konzentriert sich fast hundertprozentig auf Anderson, als Kommentatoren kommen nur Journalisten von The Londonpaper und vom Lokalblatt Evening Standard zu Wort - dabei hätte man doch zu gern gehört, was etwa die Financial Times von alldem hält.
Zur Erhellung der Finanzkrise taugt "Der große Rausch" auch nur sehr mittelbar: Zwar begegnen einem immer wieder Fachbegriffe wie Hedgefonds, Leerkäufe usw., wirklich erklärt wird aber wenig. Dafür bleibt das angenehm gruselige Gefühl, dass an den Börsen dieser Welt die City Boys ohne Rücksicht auf Verluste weiter vor sich hin zocken und der Normalbürger - wie immer in der ARD-Börsenberichterstattung - nur staunend danebenstehen kann. Wenn er nicht eh schon an der Matratze horcht.
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