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Diskriminierung in DeutschlandLückenhaftes Gleichbehandlungsgesetz

Der Antidiskriminierungsverband verzeichnete 2.600 Fälle für das Jahr 2023. Die Beratungsstellen sehen Reformbedarf beim Gleichbehandlungsgesetz.

Protest für mehr Barrierefreiheit in Berlin. Viele Menschen mit Behinderung haben sich an die Antidiskriminierungsstelle gewandt Foto: Christian Ditsch/imago

Berlin taz | Im Jahr 2023 haben Antidiskrimierungsstellen rund 2.605 Fälle von Diskriminierung gemeldet, das sind rund sieben pro Tag. Erstmals hat der Antidiskriminierungsverband Deutschland (advd) die Beratungsdaten seiner Mitgliedsorganisationen in einem überregionalen Lagebild Antidiskriminierung ausgewertet. Die Dunkelziffer dürfte dabei deutlich höher sein: Die Daten gehen bislang nur auf Meldungen von zwei Dritteln der Antidiskriminierungsberatungsstellen des Advd in elf Bundesländern zurück. Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes hatte zuletzt ebenfalls zunehmende Zahlen festgestellt.

Aus den im zivilgesellschaftlichen Antidiskriminierungsbericht 2023 am Dienstag vorgelegten Zahlen leitet der Antidiskriminierungsverband Deutschland einen dringenden Handlungsbedarf ab. Aus den Daten werde deutlich, dass Diskriminierung kein Randphänomen ist, sondern viele Menschen in allen Lebensbereichen treffe. Eva Maria Andrades, Geschäftsführerin des Advd, betonte die Dringlichkeit besserer Beratungsstrukturen und eines stärkeren Antidiskriminierungsrechts: „Die Ampelregierung muss endlich ihre Versprechen umsetzen.“

Auch andere Stimmen aus der Antidiskriminierungsarbeit, wie Remzi Uyguner vom Türkischen Bund Berlin-Brandenburg (TBB), kritisieren die Lücken im AGG, insbesondere in Fällen rassistisch aufgeladener Nachbarschaftskonflikte, und forderten eine Stärkung der Beratungsstellen und Rechtshilfefonds. Insgesamt fordert der Bericht stärkere Maßnahmen gegen Diskriminierung, verbesserte rechtliche Rahmenbedingungen und eine bessere Unterstützung für Betroffene durch Beratungsstellen.

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Die Erhebung zeigt, dass 50,4 Prozent der dokumentierten Fälle rassistische Diskriminierung und Antisemitismus betreffen. Besonders hervorzuheben seien antimuslimischer und Anti-Schwarzer Rassismus, die einen erheblichen Teil der Vorfälle ausmachen. Darüber hinaus seien in 19,2 Prozent der Fälle Menschen mit Behinderungen oder chronischen Erkrankungen betroffen, während 17,1 Prozent der gemeldeten Fälle auf sexistische Diskriminierungen zurückgingen. Ein Großteil der in den Beratungsstellen bekannt gewordenen Diskriminierungen finde im Arbeitsumfeld (24,7 Prozent), im Bildungsbereich (18,8 Prozent) sowie bei Gütern und Dienstleistungen (13,7 Prozent) statt.

Große Lücken im AGG

Besonders auffällig sei, dass das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) in einem erheblichen Teil der Fälle nicht greift, da es nicht alle Diskriminierungsmerkmale abdeckt. Der Advd fordert daher, dass die von der rot-grün-gelben Bundesregierung versprochene Reform des Gleichbehandlungsgesetzes endlich umgesetzt werde, um einen besseren Schutz für Betroffene zu gewährleisten.

Laut Bericht fällt fast jede fünfte Diskriminierung nicht unter das Gleichbehandlungsgesetz: 19,5 Prozent der Fälle Diskriminierungen, seien nicht durch das AGG abgedeckt, weil der Diskriminierungsgrund Staatsangehörigkeit, Aufenthaltsstatus oder sozialer Status waren. Zudem fänden viele der dokumentierten Diskriminierungsfälle in Lebensbereichen statt, die nicht durch das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz geschützt sind. Dazu gehörten zentrale gesellschaftliche Bereiche wie Bildungseinrichtungen, Behörden oder auch das Justizsystem.

Im Bildungsbereich etwa erlebten Schülerinnen, Studierende oder Lehrkräfte immer wieder Diskriminierung aufgrund von Hautfarbe, Herkunft oder Geschlecht. Diese Diskriminierungen blieben jedoch häufig ohne rechtliche Konsequenzen, weil der Schutz durch das AGG hier nicht greife. Das gleiche Problem zeige sich in Ämtern oder Behörden, wo Bürgerinnen, die sich zum Beispiel aufgrund ihres Migrationshintergrunds oder ihres sozialen Status diskriminiert fühlen, keinen rechtlichen Rückhalt durch das AGG hätten.

Zu wenig Lebensbereiche vom AGG geschützt

Besonders problematisch sei, dass auch im Justizbereich Diskriminierungen gemeldet werden. Fälle, in denen Menschen in Kontakt mit der Polizei oder vor Gericht Diskriminierung erfahren, blieben oftmals ungesühnt, weil es an einem umfassenden gesetzlichen Schutz fehlt. Dies zeige einen dringenden Handlungsbedarf auf: Das AGG müsse ausgeweitet werden, um Diskriminierung in diesen wichtigen Lebensbereichen zu bekämpfen, fordert der Verband.

Insgesamt zeige sich, dass rassistische, sexistische oder andere diskriminierende Handlungen häufiger auftreten und zunehmend als „normal“ wahrgenommen würden. Die Advd-Mitgliedsorganisationen warnen, dass die Diskriminierungsrealitäten für viele Menschen in Deutschland immer weiter zunehmen werden. Besonders gefährdet seien dabei bereits marginalisierte Gruppen, die unter einem zunehmenden Druck der Ausgrenzung leiden.

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