Digitale Bohème, ein Abgesang: Wir nennen es Blase
Eine alternative Lebensform jenseits von Festanstellung und freiem Schaffen ist nicht möglich und war es nie. Ein Abgesang auf das Gerede von der "digitalen Bohème".
Die Zahl der Arbeitenden, die von ihrem Lohn kaum leben können, steigt immer weiter. Einige Berufsgruppen haben langjährige Erfahrungen mit der Situation. Die freischaffenden Kreativen und Künstler zum Beispiel waren in ökonomischer Hinsicht schon immer die Deppen der Nation. Nicht ohne Grund gibt es das Klischee vom brotlosen Schöpfer wertvoller Ideen ohne Gewinn. Das Durchschnittseinkommen liegt hier in der Regel in der Nähe der Armutsgrenze, viele kommen gerade so über die Runden oder sind auf Nebenjobs angewiesen. Durch das Internet sollte sich eigentlich vieles zum Positiven geändert haben. Die digitale Vernetzung ermögliche gerade den freischaffenden Kreativen völlig neue Möglichkeiten des Wirtschaftens, hieß es. Doch die Realität sieht, wie so oft, ganz anders aus.
In der virtuellen Welt werden zwar massig kreative Energien freigesetzt, doch den wenigsten Künstlern, Autoren und Netzwerkern flattert das Geld durch den digitalen Posteingang hinein. Die Zahl der Autoren und "Content-Produzenten" hat sich in den letzten Jahren vervielfacht, doch die meisten davon verrichten ihr Tagewerk umsonst. Damit einhergehend gibt es praktisch überhaupt keine Lohnuntergrenzen mehr, was Jobs in der sogenannten Kreativwirtschaft angeht, obwohl diese immer wieder als Wachstumsbranche bezeichnet wird.
Vielerorts arbeiten nicht nur die Praktikanten für lausige Gehälter unterhalb des Existenzminimums. Zahlreiche hippe Projekte hantieren mit geringem Budget und können nur kleine Honorare auszahlen, locken aber mit den "coolen Referenzen". Nur kann sich dafür keiner etwas kaufen. Auch die Revolution des Selbermachens, die auf neue Formen der Kooperation setzen und neue Nischen bedienen will, entpuppt sich vielerorts als Blase.
Das ist nicht mal überraschend, denn in der vordigitalen Welt war es wenig anders. "Independent" zu sein hieß leider meist auch, verzichten zu müssen, und zwar unter anderem auf Geld. Die Freiheit des selbstbestimmten Lebens hat ihren Preis.
Im Netz werden Gratismentalität und Informationsüberflutung mittlerweile nicht mehr nur von konservativer Seite beklagt, sondern auch von einstigen Internetpionieren wie Jaron Lanier, also denjenigen, welche die digitale Revolution angezettelt haben. Die technischen Innovationen haben die Aneignung der Produktionsmittel angeblich für jedermann möglich gemacht, doch ist das erwirtschaftete ökonomische Kapital in der Regel wesentlich geringer als das soziale. Die Freunde im virtuellen Netzwerk zahlen einem aber weder Miete, Essen noch Krankenversicherung.
"Wenn alles Immaterielle gratis ist, werden wir zu digitalen Bauern, die für Lords der digitalen Wolken wie Google oder YouTube kostenlose Inhalte bereitstellen", beklagte sich Lanier unlängst in einem Interview mit der FAZ.
Lanier fordert ein "Mikrozahlungssystem", wonach jeder Zugriff auf das Produkt jedes Anbieters habe, für eine verschwindend geringe Gebühr. Ungeklärt blieb, nach welchem Verteilungsschlüssel das Ganze funktionieren soll. In der Blogosphäre wurde Lanier nach seinem Vorstoß schon als "neuer Konservativer" kritisiert, der lediglich alte Grabenkämpfe ausfocht und die Seiten gewechselt habe: "Wir", die echten Kreativen, die echten Journalisten, welche Inhalte, Werte schafften, gegen "die Anderen", die Internetideologen, die jene entmachteten und alles umsonst wollten, lautete die Replik des Netzwertig.com-Blogs. Doch so einfach ist es wohl nicht.
Ökonomisch gesehen war es immer schon eine Milchbubenrechnung, zu glauben, man könne eine Arbeit nur um ihrer selbst willen machen. Das funktionierte am besten bei jenen finanziell abgesicherten Bürgerkindern, die sich floppende Projekte erlauben konnten und die Verluste von den Eltern abgefedert bekamen.
Es bleibt also eine gewisse Skepsis gegenüber all jenen fluffigen, schön klingenden Schlagwörtern, mit denen sich das Prekariat so herrlich glorifizieren lässt. In dem Stück "Mach es nicht selbst" aus dem aktuellen Tocotronic-Album "Schall & Wahn" poltert Sänger Dirk von Lowtzow: "Was du auch machst / mach es nicht selbst / auch wenn du dir den Weg verstellst / was du auch machst / sei bitte schlau / meide die Marke Eigenbau / Heim- und Netzwerkerei stehlen dir deine schöne Zeit / Wer zu viel selber macht / wird schließlich dumm / ausgenommen Selbstbefriedigung".
Die Hamburger entstammen der Punkbewegung, einer der ersten Subkulturen, die sich das Marke-Eigenbau-Prinzip auf die Fahnen geschrieben hatte. Punk verhieß größtmögliche Selbstbestimmung. Selbstgemachte Fanzines statt etablierter Medien, Indie-Labels statt Major, Nagelscherenhaarschnitt statt Friseur. Bei Punk ging es aber nicht um Profite, sondern um eine bewusste radikale Abgrenzung vom Massenmarkt, darum, ein Leben fernab der Spießergesellschaft zu führen. Das Credo lautete, derb ausgedrückt: Die Mehrheit braucht eine geschlossene Tür vor der Fresse. Das mag einer der Gründe sein, warum sich das Prinzip Punk nicht in jederlei Hinsicht als ökonomisches Erfolgsmodell verstehen lässt.
Holm Friebe und Thomas Range riefen 2008 in ihrem Buch "Marke Eigenbau" die Revolution des Selbermachens aus, gegen die verkrusteten Strukturen des Konzernkapitalismus. Sie beriefen sich auf Punk. Man stürze sich auf die Produktionsmittel und kreiere "My Logo" statt Massenmarkt. Für ihr Buch wurden die Autoren aber gerade von linker Seite heftigst kritisiert. Ähnlich fiel auch schon das Echo auf den von Friebe mit Sascha Lobo verfassten Vorgänger "Wir nennen es Arbeit" aus, der das selbstbestimmte Leben jenseits der Festanstellung pries.
Problematisch wird es nämlich, wenn Schlagworte wie "digitale Boheme" und "Marke Eigenbau" von den Marktradikalen vereinnahmt werden, um lediglich Forderungen nach mehr Selbstverantwortung zu stützen. Aber der Markt kriegt die Dinge eben nicht immer von alleine geregelt.
Gerade in der sogenannten Kreativbranche werden also weiter Dumpinglöhne in Kauf genommen. Weil von den lächerlichen Honoraren keiner leben kann, braucht es entweder begüterte Eltern, die einem den Status finanzieren - oder die ökonomische Notwendigkeit treibt einen in den entfremdeten Nebenjob. In den Call-Centern dieser Welt wimmelt es von Selbstbastlern, Künstlern und Kreativen, deren eigentliche Profession hintanstehen muss. Für subversive Ideen bleibt wenig Zeit, wenn man um die Miete kämpft. Die Misere ist nicht neu, denn die Gelder waren auf der Welt immer schon falsch verteilt - und kamen in den seltensten Fällen den Künstlern und Kreativen zu.
"Wenn das Geld in die Werbung fließt und nicht zu den Kreativen und Künstlern, dann befasst sich eine Gesellschaft mehr mit Manipulation als mit Wahrheit oder Schönheit. Wenn Inhalte wertlos sind, dann werden die Menschen irgendwann hohlköpfig und inhaltslos", konstatierte Jaron Lanier. Umgekehrt wird ein Schuh draus. Denn die Schlauen unter den digitalen Revoluzzern haben die Werbebranche längst als Geldgeber entdeckt und lassen sich dafür bezahlen, Produkten die nötige Web-Credibility zu verleihen.
Werbung und Kunst sind in der Vergangenheit schon bizarre Allianzen eingegangen, nicht erst seit Pop-Art, mit zum Teil grandiosen Ergebnissen. Man denke nur an die "Keks ist Fortschritt"-Plakate, die Kurt Schwitters in den Zwanzigern für die Firma Bahlsen gestaltet hat, mit der Aufschrift: "In jedem Fall handeln sie recht, wenn sie sich mit Keks versehen." Künstler brauchten immer schon Brotjobs, selbst die dadaistische Avantgarde hat sich nicht von alleine finanziert. Doch sind Coups solcher Art im Web 2.0 bisher auch die Ausnahme geblieben.
Vorläufig muss man sich noch mit Facebook-Anfragen von "Opinion Leadern" herumschlagen, im Sinne von: "XY ist jetzt ein Fan von Wella Trendvision Hairstyling und möchte, dass du auch ein Fan davon wirst." Das mag den "Opinion Leader" in kreativer Hinsicht wenig gefordert haben, aber wenn er oder sie dafür einen kleinen Obolus bekommen hat, dann scheint sich das Netzwerken tatsächlich mal gelohnt zu haben. Nein, die haarige Anfrage kam nicht von Sascha Lobo. Denn dann wäre es vielleicht Kunst gewesen.
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