Arbeitsform der Zukunft: Coworking schafft Nestwärme
Junge Kreative übertragen Prinzipien aus dem Internet ins wahre Leben. Im "Coworking" sehen sie die Arbeitsform der Zukunft. Ein Besuch im Berliner Betahaus.
Wenn Florian Wichelmann morgens um sieben zu arbeiten anfängt, ist außer Gitta kaum jemand da. Wer die Grünpflanze hinter seinem Platz so genannt hat, weiß er gar nicht mehr genau, aber viel weiterhelfen kann sie ihm jedenfalls nicht. Später am Tag, so gegen elf kommen die meisten, kann es passieren, dass Wichelmann aufsteht und in die Runde fragt: Welche Arbeitskleidung findet ihr schöner? Oder: Welche Getränke würdet ihr anbieten?
Dann pult der Drehbuchautor seine Ohropax aus den Gehörgängen, die Informatiker lassen kurz ihre Datenintegrationssoftware allein, die Studentin, die hier ihre Magisterarbeit schreibt, weil es ihr in der Bibliothek zu angespannt ist, schaut herüber. "Hier bekommt man Feedback auf seine Ideen, das ist das Tolle", sagt der Endzwanziger Wichelmann, der mit einem Partner eine Restaurantkette aufbaut.
Ein Gastronom, ein Drehbuchautor, ein Informatiker, eine Studentin? Ein schönes Durcheinander da im dritten Stock eines alten Gewerbehofs, ein großer Raum, eher eine Halle, der Boden verfleckt, Energiesparlampen an der Decke, Dreier-Steckdosen hängen herunter, der WLAN-Router ist mit Gaffa-Tape an der Decke festgeklebt. Hier verbringen Menschen, die nichts gemein haben, ihren Tag. So könnte man es sehen.
Das Prinzip: Freiberufler vor allem aus der Kreativszene oder kleine Firmen arbeiten günstig und flexibel an einem Ort und befruchten sich mit ihrer Arbeit gegenseitig. Der US-amerikanische Computerprogrammierer Brad Neuberg prägte den Begriff "Coworking" im Jahr 2005.
Die Entstehung: Die ersten Coworking-Spaces in diesem Sinne waren "The Hat Factory" und "Citizen Space" in San Francisco, beide bieten aber nur knapp ein Dutzend Schreibtische. Mittlerweile gibt es ähnliche Häuser in vielen Städten der USA und zunehmend auch in Europa.
Mehr Infos: Einen Überblick über Coworking weltweit gibt es unter wiki.coworking.info. Hallenprojekt.de listet Coworking-Spaces in Deutschland auf, Neuigkeiten aus der deutschen Coworking-Szene gibt es auf der Seite coworking-news.de.
Oder man könnte sagen: Hier, im Betahaus in Berlin, wird erprobt, wie wir alle in Zukunft arbeiten. "Uns ist klar geworden, dass die Art, wie man heute arbeitet, oft nicht mehr zeitgemäß ist", sagt Christoph Fahle, einer der sechs Gründer. Im Betahaus soll keiner vor sich hin werkeln. Es ist flexibler und offener als ein Gemeinschaftsbüro, dabei ruhiger und organisierter als ein Café, in das man sich mit seinem Laptop setzt. Freiberufler, die zu Hause lieber die Fenster putzen als zu arbeiten, oder die es leid sind, sich mit ihrer Katze zu unterhalten, haben einen Ort, wo sie morgens hingehen. Start-up-Unternehmer sparen sich ein eigenes Büro, können Kopierer und Drucker nutzen. Keiner vereinsamt an diesem Ort der Kreativität. Das Betahaus, das ist wie eine Kreuzung von Arbeitszimmer, WG-Küche, Facebook und Uni-Flur. Schöne neue Arbeitswelt?
Christoph Fahle streckt sich auf einem abgewetzten Sofa im Eingangsbereich aus und schaut nach draußen. Der große Lockenkopf blickt durchs Fenster auf den Parkplatz und ein Autohaus; eher eine der tristeren Aussichten von Kreuzberg. Drinnen aber ist es gemütlich, an der Wand hängen Poster, auf den aus Spanplatten zusammengezimmerten Tischen stehen frische Blumen in Glasflaschen. Fahle, 29, ist ein Mann, der, wenn er einen Satz beginnt, meist nicht genau weiß, wie er endet. Oft ist da eine neue Idee. Gerne sitzt Fahle hier im Café, den Laptop auf den Knien, ein Lachsbagel in der Hand. Wenn seine Mutter mal zu Besuch kommt, muss er sich fragen lassen: Wann gehst du arbeiten?
"Manche Leute halten uns für naiv", sagt Fahle, "andere für flapsig." Was stimmt denn? "Beides." Der Politikwissenschaftler Fahle setzt seine fixen Ideen einfach um. Vor genau einem Jahr begannen sie mit 30 Leuten, jetzt haben sie ein zweites Stockwerk dazugemietet, 120 Nutzerverträge abgeschlossen, um die 70 Leute können gleichzeitig da sein. Aber hier kann sich alles ändern, deshalb der Name: Betahaus. Bei Software steht "beta" für eine noch nicht ganz ausgereifte Testversion.
Erst haben sie Bücherregale zwischen den Tischen aufgestellt und dann gemerkt, dass die Leute lauter sind, wenn sie sich nicht mehr sehen. Schlechte Idee. Überhaupt der Lärm, darüber beschweren sich die Leute manchmal, deshalb gibt es jetzt einen Telefonraum. Auch sollte es erst nur einen Tarif geben, 100 Euro für jeden.
Aber manche wollten nur jeden zweiten Tag kommen, deshalb haben sie flexible Tische eingeführt. Der Einsteigertarif: 12 Euro für eine Tageskarte. Der eigene Schreibtisch kostet 229 Euro im Monat, dort kann man seine Sachen auch über Nacht liegen lassen. Dazu gibt es einen Briefkasten, ein Schließfach und man darf zehn Stunden den Konferenzraum nutzen.
Das schnelle Internet ist für alle da, ein Glasfaserkabel mit 25 Megabit Geschwindigkeit, hochschaltbar auf 100 Megabit. Aber am Anfang fiel das Netz auch mal aus. "Die User müssen sich eben darauf einlassen, dass nicht alles perfekt funktioniert", sagt Fahle. Das Betahaus ist ein Experiment - und bislang ziemlich erfolgreich.
Gerade kam eine Anfrage aus Lyon: Darf ich hier ein Betahaus aufmachen? Fahle und seine Kollegen würden gerne expandieren, wie genau das aussehen soll, wissen sie nicht. Nur in einer Art Franchise-System das Konzept weitergeben oder selbst andere Häuser betreiben? Zürich steht jedenfalls auf der Liste, auch in Lissabon haben sie schon ein Haus angeschaut.
Ganz neu ist die Idee nicht, im Ausland gibt es schon seit ein paar Jahren Coworking-Spaces, also Orte, an denen man gemeinsam mit anderen arbeiten kann: in San Francisco, Paris oder Kopenhagen. Einer, der da wohl den besten Überblick hat, ist Sebastian Sooth, schwarze eckige Brille, Kinnbart. Er ist einer, der sich zum Grillabend per Twitter verabredet, dem Kurznachrichtendienst im Internet.
Sooth betreibt die Webseite Hallenprojekt.de, auf der Coworking-Spaces vorgestellt werden. Sooth hat da ein weites Verständnis: Ein ICE kann es sein oder eine Bibliothek. Das Betahaus gehört dazu, das Größte seiner Art weltweit. Auch das Studio 70 mit seiner Wohnzimmeratmosphäre, das Sooth mit ein paar anderen in Berlin gegründet hat. Sooth schwärmt von einem "ganz anderen Arbeits- und Lebensgefühl". Seine Vision: Coworking-Spaces im 10-Minuten-Radius, wo man gerade ist. Er träumt davon, dass eines Tages ein weltweites Netz entsteht. Einmal zahlen, überall arbeiten. Und man kann immer in die Runde fragen: Wer hat Ahnung von Webdesign? Ich hätte da einen Job.
Die Begeisterung steckt an. In Köln, Stuttgart oder Hamburg haben sich Gruppen gefunden, die Coworking ausprobieren möchten. Meistens beginnen sie klein und haben große Ideen. In Dresden etwa wollen sie einen alten Lokschuppen ausbauen. Ein leerstehender Backsteinbau, 1.500 Quadratmeter, 100 Plätze soll es geben. Ralf Lippold, einer der Initiatoren, hat sich viele Coworking-Spaces angeschaut und ist überzeugt, dass diese Büroform wichtiger wird, gerade in seiner Region. "Man kann auch hier arbeiten, wenn die Firma ganz woanders sitzt", sagt er. Einen Architekten haben sie gefunden, fehlt noch das Geld und die endgültige Entscheidung, dass sie das Gebäude nutzen können. Lippold schwebt vor, dass alle Nutzer des Hauses gemeinsam Beratung anbieten und so den Umbau refinanzieren.
Johanna Gundermann denkt in eine andere Richtung: Die 31-Jährige möchte in Leipzig ein Büro gründen, in dem Eltern mit ihren Kindern den Tag verbringen können. "Es ist doch schade, dass heutzutage die Kinder- und die Erwachsenenwelt so getrennt sind", sagt sie. Die Idee bekam sie vor gut drei Jahren, vier, fünf Anläufe hat sie schon gemacht. Jetzt soll es endlich klappen, ein komplettes Erdgeschoss hat sie in Aussicht. Gundermann arbeitet für eine Sprachschule, ihr Mann ist Webdesigner - die beiden werden mit ihren drei Kindern selbst im "Rockzipfel" arbeiten.
In Berlin gibt es so viele Freiberufler, dass bereits von einer "digitalen Boheme" gesprochen wird. Immer wieder liest man von Latte-Macchiato-Schlürfern, die im Café an neuen Projekten basteln. Digitale Boheme? Christoph Fahle sagt: "Die Affen im Zoo werden sich auch nicht als Zootiere sehen." Hier im Betahaus werde zudem viel Geld verdient, auch ohne Festanstellung. Dass gerade jetzt Coworking im Kommen sei, habe auf jeden Fall viel damit zu tun, dass sie mit dem Internet aufgewachsen sind, sagt Fahle. Damit meint er nicht nur die technischen Voraussetzungen, sondern auch die soziale Komponente. "Früher hat man seine Gebiete abgesteckt, die anderen nicht in die Karten schauen lassen, heute lädt man die Leute ein." Er ist überzeugt: Wenn man Wissen teilt, hat man mehr davon. Open Source im realen Leben.
Wer Coworking als Zukunft der Arbeit sieht, hat sich davon verabschiedet, dass das Leben online funktionieren kann. Der Mensch braucht soziale Orte. Das ist auch das, was der Gastrounternehmer Wichelmann hier sucht: "Nestwärme". Mit den anderen kann man abends auch mal ein Bier trinken gehen. Für die Betahaus-Gründer war es nicht leicht, all diese Besonderheiten Banken und Investoren klarzumachen - irgendwie bekamen sie es hin. "Alles das hier ist von der Vision erst der Anfang", sagt Fahle.
Ron Marcus, der Drehbuchautor, auf dem Tisch eine mit Wasser gefüllte Colaflasche und eine Packung Schmerzmittel, hat sich derweil in seine schwarze Fleecejacke eingekuschelt und in seine eigene Welt zurückgezogen; er arbeitet an einem Roman. Markus ist seit Juli hier. Davor hat er zu Hause geschrieben, seine Freundin arbeitet auch zu Hause, das gab Spannungen. Hier gefällt es ihm. Und er bekam hier schon eine Idee für einen Film. Er hat an einem der Nachbartische einen Mann beobachtet, Ende 40, adrett angezogen, Typ Unternehmensberater. Wäre es nicht amüsant, wenn der Familienvater hier im Betahaus seine zweite Jugend findet?
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