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Archiv-Artikel

„Dies Spiel ist der Krieg“

Großbritannien im Krieg, der Fußball im Zweifel: Während britische Soldaten im Irak kämpfen, bleibt der Fußballverband autistisch und Profis wie David Beckham geben sich Mühe, indifferent zu bleiben

von ERIK EGGERS

Der ergriffene Leitartikler der Evening Post ließ nach dem Kriegseintritt der Engländer anno 1914 keine Zweifel aufkommen. „Jetzt ist keine Zeit für Fußball“, so das Credo, „die Nation hat sich um wichtigere Dinge zu kümmern. Die jungen Männer, welche Fußball spielen, und die jungen Männer, welche zuschauen, haben Besseres zu tun. Das Vaterland ruft sie. Sie sind aufgefordert, am großen Spiel teilzunehmen. Dies Spiel ist der Krieg, auf Leben und Tod.“ Zuvor schon hatte die noble Times gedichtet: „Der Hauptmann sagt, kein Tor wiegt das jemals auf, was nun benötigt wird. Zieh die Sportjacke und die Mütze aus.“ Das bezahlte Fußballspiel galt also als unpatriotisch in einer Zeit, in der die ersten Freiwilligen auf den flandrischen Feldern fielen. Die englische Football Association (FA) beugte sich dem Zeitgeist – und stellte Plätze und Stadien militärischen Zwecken zur Verfügung.

Doch der Spielbetrieb lief vorerst weiter. Fortan aber stand der Generalverdacht des Vaterlandsverrates im Raum. Selbst dann noch, als sich in den folgenden Monaten 2.000 von 5.000 britischen Berufsspielern freiwillig zur Front meldeten und sich dort teilweise in reinen „Fußballbataillonen“ wiederfanden. Ein Regiment wurde später berühmt, weil es bei Sturmangriffen durch das Niemandsland Fußbälle vor sich her trieb. Erst die Einstellung des Ligabetriebs am Ende der Saison 1914/15 beruhigte die Kritiker an der Heimatfront. Und diese Erfahrungen wirkten nach: Als Hitler-Deutschland im September 1939 den Zweiten Weltkrieg provozierte, ruhte der Ball auf der Insel unverzüglich.

Wie aber reagiert der britische Fußball heute? Die Lage stellt sich völlig anders dar. Der britische Fußball wirkt vielmehr geradezu autistisch: Nichts in den Stadien deutet darauf hin, dass parallel zum Spiel ein Krieg mit britischer Beteiligung stattfindet, kein Transparent, kein T-Shirt unter dem Trikot eines Profis, keine friedensfordernde Gesichtsbemalung eines Zuschauers. Allenfalls indirekt: Den Kommentatoren, die sonst allzu gern das klare Vokabular des Krieges zur journalistischen Zuspitzung benutzen, verzichten nun darauf. Und auf den Sportseiten der großen englischen Zeitungen keimt keinerlei Diskussion.

Allein zwei winzige Fußnoten erreichten die Fußball-Öffentlichkeit: „Es wäre schön, den Menschen in diesen Zeiten ein bisschen Ablenkung und ein Lächeln zu bescheren“, sagte der englische Kapitän David Beckham notgedrungen vor dem Länderspiel in Liechtenstein, als ihn die Reporter mit dem Krieg konfrontierten. Aufregender fand hingegen die konservative Presse die Meldung, nach der Robert Pires, französischer Mittelfeldspieler in Diensten Arsenal Londons, angeblich konform mit der Politik seines Präsidenten Jacques Chiracs einen Boykott als Protestform gegen den Krieg in Erwägung zog. Pires indes dementierte sofort.

Die Situation ist bizarr, zumindest auf den ersten Blick. „Auch 1991, beim ersten Golfkrieg, hat eine solche Diskussion nicht stattgefunden“, sagt John Williams, Leiter des Sir Norman Chester Centres for Football Research an der Universität Leicester. Seine Erklärung ist verblüffend simpel: Der moderne Krieg werde heute nun einmal von Berufssoldaten geführt, und anders als früher werde nicht mehr jeder Mann benötigt. In Kenntnis dessen, so Williams, „betrachten es die Menschen – einschließlich der Fußballfans – es nicht als unpatriotisch, wenn sie sich trotz des Krieges dem Alltag widmen“. Es sei oft genug argumentiert worden, so der Soziologe, „dass der Sport bei der Truppe die Kampfkraft aufrecht erhält“, dass vor allem die Frontsoldaten so „in touch“ blieben mit der Heimat. Und dass die Ergebnisse der Premier League auch im Kampf um Basra nicht nur eine (Schein-)Normalität suggerierten, sondern die gemeinsame Fußballsozialisation so auch die Moral der Truppe stärke.

Eine Fußball-Ikone an der Front aber scheint derzeit ausgeschlossen. Die einst viel diskutierte Frage, ob der Nutzen der „Sportskanonen“ Großbritanniens in der Heimat größer ist als an der Front, stellt sich nach Ansicht Dietrich Schulze-Marmelings ohnehin nicht mehr. „Es geht heute auch immer um knallharte finanzielle Interessen“, so der deutsche Fußballhistoriker, der Betrieb müsse nun einmal weitergehen. Zur Absage von Sportevents, sagt auch Williams, „wird es vermutlich erst bei einem Bombardement der Stadien kommen“. Ein ferner Krieg scheint nicht unmittelbar genug, den Rhythmus der Fußballindustrie zu unterbrechen. Das ist wohl die Essenz: dass sich der moderne Fußball mehr und mehr von der Welt abnabelt und eine eigene bildet.