: Die unbestimmte Fremde
■ Der Ethnologe Hans-Jürgen Heinrichs liest heute im Literaturhaus aus seinem neuen Buch „Erzählte Welt“
Wer sich über die Möglichkeiten informieren möchte, fremde Kulturen zu verstehen, kommt um den Namen Hans-Jürgen Heinrichs nicht herum. Seit bald zwanzig Jahren betreibt der Ethnologe und Kunsthistoriker einen florierenden Importhandel: Er gab die Schriften von Michel Leiris heraus, publizierte eine Menge über den jeweiligen Stand avancierter ethnologischer Ansätze von Clifford Geertz bis Hubert Fichte und reicherte dies alles an durch sein stupendes Wissen über die Wechselbeziehungen zwischen der europäischen Moderne und der sogenannten primitiven Kunst Afrikas und Asiens.
Insofern kann Hans-Jürgen Heinrichs unbestrittene Verdienste vorweisen: Er ist eine der wenigen Gegenfiguren, die wir hierzulande gegen die immer noch objektivistisch geprägte universitäre Ethnologie haben. In seinem im vergangenen Herbst bei Rowohlt erschienenen Buch Erzählte Welt, dessen Thesen er heute abend im Literaturhaus vorstellt, geht Heinrichs nun über sein bisheriges Wirken einen Schritt hinaus. Er möchte eine Vielzahl ethnologischer Unternehmungen mit einer allgemeinen Theorie des Verstehens fremder Kulturen überhöhen. Dazu unternimmt er eine ausgedehnte Lektürereise: Anhand der Ethnoreportagen Wassili Peskows begibt er sich in die Taiga, die Ethnoliteratur Nigel Barleys führt ihn nach Indonesien und anhand einer Vielzahl anderer Beispiele bespricht er klassische Orte der Ethnologie.
Was Heinrichs mit diesen Beispielen zeigen möchte, ist, daß ein objektives Verstehen fremder Kulturen nicht möglich ist – ja daß, je subjektiver die jeweilige Herangehensweise an die fremde Kultur ist, desto mehr von dieser in jener aufscheint. Was nun sein kann oder nicht: Schließlich bleibt die Beschäftigung mit fremden Kulturen ein prekäres Geschäft, und zumindest wird kaum jemand bestreiten, daß es verschiedene Lesarten kultureller Wirklichkeiten gibt. Nur verwischt Heinrichs den Widerstreit zwischen den Lesarten, alles geht bei ihm in einem beliebigen Pluralismus der Ansätze auf.
Das hat seinen Grund in einem seltsam leeren Begriff des Fremden. Heinrichs möchte auf seiner Lektürereise, so scheint es, gar nicht zu einer konkreten fremden Kultur hin. Er möchte nur von den starren Grenzen der westlichen Rationalität weg. Insofern läßt er sich letztlich von der Fremde nur faszinieren, indem er sie als Spiegel für das Unbehagen an der eigenen westlichen Kultur benutzen kann. Was man in einschlägigen Untersuchungen über konkrete fremde Kulturen erfährt, mag man skeptisch behandeln müssen. Bei Heinrichs erfährt man über das Fremde gar nichts. Dirk Knipphals
Literaturzentrum im Literaturhaus, 20 Uhr
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