: Die unberechenbare Realität
■ „Sturzflug“ - Ein Film von Thorsten Näter, ZDF, 23.00 Uhr
Das Leben in Thorsten Näters Film Sturzflug ist ein proletarisches: Willi (Wilfried Dziallas) und Kurt (Wolfgang Finck) sind Hafenarbeiter in Lübeck. Willi ist groß, verfressen und mächtig fett: eine deutsche Dampframme mit Stiernacken und Bierbauch. Wo der hinlangt, wächst kein Gras mehr, und wenn das Geld wieder vorne und hinten nicht reicht, geht's in die Kneipe einen saufen. Mit Kurt ist es schwieriger, denn Kurt will nach oben. Weiterbildung ist angesagt. Doch als sich Kurts Aufstiegspläne im Betrieb herumsprechen, meiden ihn die Kollegen. „Der ist wohl was Besseres“, heißt es, und Kurt, ohnehin keine Frohnatur, leidet noch mehr. Trotzdem sind Kurt und Willi miteinander befreundet. Willi schätzt an Kurt, daß er ihn auch anpumpen kann, und außerdem bewundert er den stillen Kollegen, weil er mit Computern herumhantiert. Kurt ist fasziniert von Willis Draufgängertum, und es ist einfach besser, einen wie Willi zum Freund zu haben.
Thorsten Näter, in Personalunion Drehbuchautor, Regisseur, Cutter, Produzent und zeitweise auch Kamermann, plaziert seine Figuren in der Exposition hart am Rande des Klischees. Doch Näter kennt seine Pappenheimer. Selbst im Lübecker Arbeitermilieu großgeworden, weiß er gängige Prolo-Klischees zu vermeiden. Der 36jährige Filmemacher hat einen ganz eigenen Stil filmischen Erzählens entwickelt. Wenn Willi und Kurt im Betrieb ganz selbstverständlich anstehen, um für die tägliche Arbeit eingeteilt zu werden, dann wurde diese Szene nicht gespielt. Die Arbeitsverteilung hat wirklich stattgefunden, und nur die beiden Hauptdarsteller sind in dieser Situation „unecht“. Das Funktionieren einer solchen Szene, das heißt, daß die Profi-Schauspieler nicht als Fremdkörper auffallen, hat viel mit dem Vertrauen zu tun, das sich Näter und auch die Schauspieler zuvor erwerben mußten. „Praktisch hat das bedeutet“, erklärt der Filmemacher, „daß, bevor wir überhaupt mit Drehen angefangen haben, 'Willi‘ und 'Kurt‘ jeden Morgen um sechs im Blaumann zur Arbeitsverteilung angetreten sind, während 'Rita‘ (im Film Willis Frau) Kaffee an die Arbeiter ausgeschenkt hat. Und das solange, bis die Arbeiter das völlig normal fanden, daß wir da rumrannten.“ Fiktion und Wirklichkeit prallen hier nicht aufeinander, sondern sind vorzüglich ineinander verzahnt.
Einmal den Bauch in die Sonne halten und die anderen ackern lassen, davon träumt Willi, und das Video über Thailand, das er sich mit Kurt ansieht, offeriert noch ganz andere Reize als nur Sonne und Müßiggang: Grazile, mandeläugige Schönheiten, die sich - bekleidet nur mit der Andeutung eines Bikinis - aufreizend zur sinnlichsten Musik bewegen. Und was das Beste ist: All die Scnönen scheinen nur auf stramme, deutsche Mannsbilder zu warten. Also nix wie hin, plant Willi, und auch Kurts Reiselust ist geweckt, wenngleich nicht durch die niederen Beweggründe des Kollegen Willi. Ihren Frauen erklären die beiden kurzerhand, man absolviere eine Kur in Bad Bramstedt, und schon startet der Clipper gen Bangkok.
Wie nicht anders zu erwarten, taucht Willi dann auch mit zwei Thailänderinnen auf und verspricht sich und Kurt ein paar äußerst angenehme Stunden. Der Abend jedoch endet nicht, wie es sich Willi erträumte, sondern zuviel Alkohol degradieren den geilen Fleischkoloß zum hilflosen Riesenbaby. Und Kurt? Kurt hat Spaß. Mit dem Wörterbuch in der Hand radebrecht er thailändisch, daß es für die ihm zugedachte Gespielin eine Freude ist. Da kann Willi, der das Gelächter der beiden im Nebenzimmer mitanhört, in völliger Verkennung der Situation, nur neidvoll stammeln: „Der geile Bock.“
Immer wieder hat Drehbuchautor Näter Szenen entwickelt, in denen für die Helden zunächst alles nach Plan verläuft. Doch dann wendet sich eine unberechenbare Realität gegen die Akteure und zieht ihnen den Teppich unter den Füßen weg. Näters Utopie: Das entstehende Chaos ist produktiv, eröffnet neue, unbekannte Wege.
Bei einem Ausflug im thailändischen Dschungel verlieren Kurt und Willi ihre Reisegruppe. Ganz allein und auf sich gestellt, müssen sie zurechtkommen, und die Reise, als Vergnügung geplant, wird zum Horrortrip: Fauliges Wasser, Blutegel und Dschungel allüberall. Das Ende vor Augen beginnen die Männer auf einmal von sich zu reden. Davon, was hinter dem Gerede vom potenten Macho liegt, den Willi so gerne raushängt, und auch von der Angst, daß ihnen das Leben einfach durch die Finger rinnt und am Ende nichts bleibt. Hier im Niemandsland legen die Männer die Rollenpanzer ihres bundesdeutschen Arbeiteralltags auf einmal ab. Wie das Leben danach weiter geht? Sturzflug enthält sich, wenn es um die Beschreibung einer anderen, vielleicht besseren Welt geht. Der Film endet offen, nur eines ist sicher: Nichts wird mehr so sein, wie es früher war.
Friedrich Frey
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