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Archiv-Artikel

Die selbst ernannten Sieger

Die Hamas feiert sich als Gewinner, doch im Gazastreifen sind auch andere Töne zu hören. Allzu laute Kritik unterdrücken die Islamisten mit Gewalt

Offen kritisiert die Islamisten kaum jemand. Ihre beliebteste Methode ist es, Widersachern ins Knie zu schießen

AUS GAZA KARIM EL-GAWHARY

Wie ein Feldherr steht der junge Hamas-Offizier auf dem Schutthaufen seiner Polizeistation im Zentrum Gazas. In seiner schwarzen Fliegerjacke und mit einer abgebrochenen Antenne in der Hand dirigiert der Bärtige die Aufräumarbeiten. Seine Männer sammeln alles Brauchbare ein und schaufeln rund um die Station kleinere Gesteinsbrocken weg. Noch hat der Offizier kein schweres Gerät wie einen Bulldozer unter seinem Kommando. „Das wird schon wieder“, sagt er. Und fügt selbstbewusst hinzu: „Wie du siehst, wir sind noch da, und wir haben alles unter Kontrolle.“

„Wir sind die Sieger“, das ist der Tenor der Hamas nach dem 22-tägigen Krieg im Gazastreifen. Auch Taher al-Nunu, einer der Sprecher der Islamisten, stimmt ihn an. „Israel wollte die Hamas in Gaza stürzen, aber wir sind immer noch da“, sagt er. „Sie wollten den Gazastreifen erneut besetzen und sind wieder weg. Alle ihre Kriegsziele sind gescheitert.“

Das Fußvolk der Hamas räumt auf, und ihre Pressesprecher geben wieder Interviews. Fast so, als sei nichts geschehen. Selbst die „Regierungsinstitutionen“ haben inzwischen begonnen, zu arbeiten. Auf Plastikstühlen sitzen die Hamas-Vertreter vor den Schutthaufen ihrer einstigen Arbeitsplätze und kümmern sich um erste Anträge. Schon beim letzten Freitagsgebet konnte man einzelne Hamas-Aktivisten beobachten, die Geld an Menschen verteilten, die ihre Häuser verloren haben.

Der Hamas-Sprecher al-Nunu hat eine ganze Liste für Schadenersatzansprüche zusammengestellt. Die Hamas arbeite in drei Phasen, erklärt er. Während des Krieges habe man den Betroffenen Notunterkünfte und Nahrungsmittel beschafft. Jetzt befänden sie sich in der zweiten Phase. Die Schäden müssten bewertet werden, betroffene Familien eine erste schnelle Hilfe erhalten.

4.000 Euro bezahle die Hamas für ein völlig zerstörtes Haus, 2.000 Euro für ein im Moment nicht bewohnbares, damit die Menschen die Miete für eine alternative Wohnung finanzieren könnten. Jeweils 1.000 Euro bekomme eine Familie, die einen Toten zu beklagen hat, 500 Euro für einen Verletzten und seine Behandlung.

„Das gilt, egal welcher politischen Zugehörigkeit die Betroffenen sind“, behauptet Hamas-Sprecher al-Nunu. „Wir sind die Regierung für alle Menschen in Gaza.“ Woher das Geld kommt, dazu will er aber nichts sagen. Die spätere dritte Phase werde dem Wiederaufbau gewidmet sein. „Diese Geldmittel haben wir nicht, schließlich geht es um Milliarden“, sagt er. Da müsse die internationale Gemeinschaft ihrer Verantwortung gerecht werden. Und natürlich müssten die Grenzen geöffnet werden, damit Baumaterial hereinkommen kann.

Doch so selbstbewusst die Hamas in der Öffentlichkeit auftritt, in privaten Gesprächen geben viele in Gaza der Hamas eine Mitverantwortung für den Krieg. Offen aussprechen will das aber kaum jemand, dafür sorgen schon allein die Kämpfer der Hamas, die auf den Straßen von Gaza nun wieder ihre Monopolstellung eingenommen haben. Es kursieren zahllose Geschichten, wie sie mit zu lautem Widerspruch umgehen. Ihre beliebteste Methode ist es, ihren Widersachern ins Knie zu schießen.

Unterstützung der Hamas auf der einen Seite, Ablehnung auf der anderen: Die Konfliktlinie verläuft manchmal mitten durch die Familien. Eine Bäuerin, die in Beit Lahia im Norden des Gazastreifens Erdbeeren anpflanzt, bleibt den Islamisten treu. „Lass die Hamas uns verteidigen“, sagt sie vor ihrem zerstörten Haus, „damit ihre Raketen die Israelis zum Zittern bringen.“ Sie hat im Krieg vier Kinder verloren. Ihr Schwager Aschraf hat dagegen genug von der Hamas. „Jeden Tag haben sie hier Raketen abgeschossen“, erzählt er. „Wir konnten sie nicht daran hindern. Sie hätten uns getötet. Sie haben sich aufgebaut, wo sie wollten.“

Ein palästinensischer Journalist, der nicht namentlich genannt werden möchte, erzählt die Geschichte von seinem Haus im Norden Gazas. Als Hamas-Kämpfer ihren Raketenwerfer in der Gasse aufbauen wollten, kamen die Leute aus den Häusern gestürzt. „Wenn ihr die abfeuert, sind wir alle hier in der nächsten Minute tot“, schrien sie. Und weil es am Ende fast hundert Menschen waren, seien die Hamas-Kämpfer wieder abgezogen.

4.000 Euro bezahlt die Hamas für ein völlig zerstörtes Haus, 2.000 Euro für ein im Moment nicht bewohnbares

Inzwischen wird auch mehr und mehr deutlich, dass der Widerstand, den die Hamas-Kämpfer der israelischen Armee entgegengesetzt haben, wesentlich geringer war als erwartet. Im klassischen Guerillastil haben sie die direkte Konfrontation gemieden und sind bis nach dem Krieg abgetaucht. Für Mcheimar Abu Saadeh, einen Politologen an der Al-Azhar-Universität in Gaza, ist der Sieg der Hamas nicht so eindeutig, wie diese vorgibt. „Die Hamas kann behaupten, dass sie gewonnen hat, weil sie weiter an der Macht ist und militärisch nicht zerstört wurde. Aber jenseits dieser Slogans fühlen die Palästinenser, dass der Krieg für sie eine Tragödie und eine Katastrophe war“, beschreibt er die Stimmungslage. „Die Hamas mag vom Sieg sprechen, aber viele hier sehen das anders.“

Eines der größten Probleme der Nachkriegszeit wird nun der Streit über den Wiederaufbau sein: Wer darf was mit welchem Geld und mit welchem Material aufbauen?

Israel will jedes Bauvorhaben abzeichnen. Die Europäer wollen ihre Gelder für den Wiederaufbau nur an der Hamas vorbei kanalisieren – bei den gegenwärtigen Machtverhältnissen im Gazastreifen ein Ding der Unmöglichkeit. Den „zweiten Teil des Krieges, mit dem der Hamas endgültig der Garaus gemacht werden soll“, nennt der prominente ägyptische Journalist Muhammad Hassanein Heikal den Streit über den Wiederaufbau.

Wie schwer die Hamas in dem Krieg tatsächlich getroffen wurde, ist durch den bloßen Augenschein unmöglich zu bewerten. Israel behauptet, 700 Hamas-Kämpfer im Krieg getötet zu haben. An der Wand einer vom Krieg schwer beschädigten Moschee in Gaza hängt eine Liste mit den Namen von Hamas-Gefallen, hier sind es knapp 300. Fest steht: Alle Gebäude der staatlichen Institutionen und alle Polizeistationen wurden dem Erdboden gleichgemacht. Die beiden Führer der Hamas, die graue Eminenz Mahmud Sahar und Gazas Premier Ismail Hanijeh, wurden bisher nicht in der Öffentlichkeit gesichtet. Der ehemalige Innenminister Said Sayyam kam bei einem israelischen Bombenangriff ums Leben. Wie stark aber die militärische Infrastruktur zerstört wurde, bleibt im Dunklen.