Die nächste Werkstatt ist weit: Eine Frage der nationalen Ehre

Für Pinochet war sie von stragischer Bedeutung. Nun wollen Naturschützer verhindern, dass die 1.300 km lange „Südstraße“ den Natupark durchschneidet.

Erneuter Ausbruch des Vulkans Chaiten im Februar 2009 Bild: dpa

Die graue Masse unter den Schuhen fühlt sich an wie grober Sand. Die Schritte machen kein Geräusch auf dem Weg durch Chaitén, denn die Asche liegt überall kniehoch - in den Vorgärten, auf dem Spielplatz und auch in den Häusern, die das Flussbett des Río Blanco säumen. Der Blick durch offen stehende Türen fällt in Wohnzimmer, die mit grauem Schlamm vollgelaufen sind. An den Wänden hängen noch Familienbilder, Zeit zur geordneten Abreise gab es nicht.

Bis 2008 florierte das Städtchen Chaitén im tiefen Süden Chiles. Reisenden auf der Carretera Austral, der 1.300 Kilometer langen „Südstraße“ durch den chilenischen Teil Patagoniens, diente es als erster Stützpunkt. Dann, Anfang Mai, brach zum ersten Mal seit 10.000 Jahren der gleichnamige Vulkan aus. Zwanzig Kilometer hoch reichte die Aschesäule. Verwüstet wurde Chaitén aber erst, als der Fluss, der große Mengen vulkanischen Materials aufgenommen hatte, über die Ufer trat. Das Schicksal der Geisterstadt ist nach wie vor ungewiss. Denn immer noch spuckt der Berg Rauch und Asche.

Für Touristen hat die Katastrophe einen neuen Höhepunkt der an Attraktionen nicht eben armen Carretera Austral geschaffen. Wenn die Fähre aus dem 350 Kilometer nördlich gelegenen Puerto Montt anlegt, füllt sich Chaitén für kurze Zeit mit Leben, dann brechen die Besucher gen Süden auf. Zu den Kollateralschäden der Eruption gehört dagegen die vorläufige Schließung des Pumalín-Parks, eines riesigen privaten Naturreservats, das der US-Millionär Douglas Tompkins angelegt hat.

Dass die Tour in den tiefen Süden des Andenlandes auf dem Schiff beginnt, geht auch auf Tompkins Konto. Seit Jahren liefern sich der „deep ecologist“ und seine Pumalín-Stiftung juristische Scharmützel mit den chilenischen Behörden, um zu verhindern, dass der nördliche Lückenschluss der Ruta 7 - so der technische Name der Carretera - den Park durchschneidet und wertvollen Urwald zerstört. Aus touristischer Sicht ist der maritime Auftakt durchaus willkommen - aber viele chilenische Politiker halten die Fertigstellung der Straße für eine Frage der nationalen Ehre. Immer wieder intrigiert man gegen Tompkins, den bekehrten Kapitalisten, der mit den Marken „Esprit“ und „The North Face“ reich wurde.

Die Carretera Austral beginnt, wo der westliche Zweig der Panamericana endet. Undurchdringlicher Wald, vergletscherte Berge, bunte Fischerboote in Fjorden und Holzhäuser, auf denen die feuchte Pazifikluft Flechten gedeihen lässt - auf den ersten Blick erinnert die Landschaft an Norwegen. Wer sich aufmacht, die nur abschnittsweise asphaltierte Carretera zu erkunden, sollte sich gegen schlechtes Wetter wappnen und sich mit der Mechanik seines Fortbewegungsmittels einigermaßen auskennen. Einen platten Autoreifen oder lockere Speichen am Fahrrad sollte man selbst beheben können, der Weg zur nächsten Werkstatt kann weit sein. Busse verkehren zumeist nur einmal täglich.

Auf der Carretera Austral Bild: Alexander Wellmann Catalán

Viele junge Chilenen sind freilich als mochileros unterwegs: Überall an den Ortsausgängen halten sie den Daumen in die Luft. Wer allein reist, freut sich auch bald über Begleitung, denn belebt ist die Carretera mitnichten. Nur auf halber Strecke, rund um die Regionalhauptstadt Coyhaique, weht ein Hauch von Urbanität. Aber auch mit den vereinzelt lebenden colonos, den „Siedlern“ am Rande der Strecke, kommt man schnell in Kontakt, wenn man ein wenig Spanisch spricht. Die Menschen sind herzlich und hilfsbereit, obwohl alle eine sonderbare Eigenart teilen: Sie sind eiserne Anhänger des 2006 gestorbenen Exdiktators Augusto Pinochet.

Am Eingang von La Junta, einem von Felswänden eingerahmten Ort, in dessen breiten Straßen Hühner picken, prangt auf einem stattlichen Schild noch der erste Name der Straße: Carretera Austral General Augusto Pinochet (der Ortsname verweist auf die Verbindung - junta - zweier Täler). Eigentlich verachtet die große Mehrheit der Chilenen den toten General für sein brutales und korruptes Regime, aber Städtchen wie La Junta verdanken ihm den Anschluss an den Rest des Landes - das vergessen ihm die Bewohner nicht.

Dabei war der Bau der Carretera, für den der Diktator ab 1976 tausende Soldaten die Wildnis durchpflügen ließ, nicht seiner Liebe zum Volk geschuldet. Er wollte geostrategische Tatsachen schaffen. Die Siedlungen im Süden waren vom Norden nur per Schiff oder Flugzeug erreichbar - oder auf dem Landweg über Argentinien. Mit dem Nachbarn lag das Regime aber wegen Grenzstreitigkeiten im Dauerclinch, der 1978 fast zum Krieg eskalierte. Die neue Straße sollte die Bindung der Anrainer ans Vaterland festigen - und etwaige Truppenbewegungen erleichtern.

Heute begegnet man keinem Militärjeep mehr, aber auch Laster oder Busse sind selten. Kein Wunder: Die Aisén-Region, durch die der Hauptteil der Carretera Austral verläuft, hat nur 100.000 Einwohner - nicht mal einen pro Quadratkilometer. Am häufigsten begegnet man Kühen und Schafen. Dennoch werden viele Straßenabschnitte ausgebaut. Zwischen La Junta und Coyhaique muss man immer wieder warten: Felsen werden gesprengt, gewaltige Maschinen verdichten die Piste. Dass so viel in die Verkehrsader einer menschenleeren Gegend investiert wird, liegt einerseits daran, dass Geld vorhanden ist. Der Staat hat satte Gewinne aus dem Kupferexport eingefahren und steckt sie in Infrastruktur. Andererseits hegt man die Hoffnung, mehr Touristen in die Region zu locken. Deren Interesse beschränkt sich bislang vor allem auf die San-Rafael-Lagune, wo eine Gletscherzunge ins Meer kalbt. Sie wird von Kreuzfahrtschiffen und Kleinflugzeugen angesteuert. Viel weiter südlich, auf dem 50. Breitengrad, zieht der Nationalpark Torres del Paine Besucherströme an.

Rio Baker Bild: Jorge Morales F.

Dabei ist die Landschaft an der Carretera Austral ebenso beeindruckend. Im Nationalpark Queulat stapfen Besucher über einen mit der Motorsäge in den kalten Regenwald geschnittenen Pfad. Unter von Epiphyten überwucherten Baumriesen und im dichten Bambusunterholz schwirren Kolibris, im Halbdunkel wachsen üppige Farne und die riesenhaften Blätter der Nalca, einer Rhabarberpflanze. Am Ende des beschwerlichen Weges eröffnet sich ein atemberaubendes Bild: eine mehrere hundert Meter senkrecht aufsteigende Granitwand, über deren Kante sich bläulich schimmernde Eismassen schieben und Schmelzwasserkaskaden in die Tiefe schicken. Der ventisquero colgante, der „hängende Gletscher“ von Queulat, muss keinen Vergleich mit anderen Naturwundern scheuen, und doch ist er selbst vielen Chilenen kein Begriff.

Südlich von Coyhaique verändert sich die Landschaft schlagartig. Der Wald weicht trockenem Grasland, das an vielen Stellen Erosionsspuren zeigt. Die Hänge zu beiden Seiten sind mit toten Baumstämmen übersät. Das Urwaldmassaker fand in den 1940er-Jahren statt: Siedler, die Weideland gewinnen wollten, rodeten mit Feuer, die Brände gerieten außer Kontrolle und vernichteten abertausende Hektar Vegetation. Erst unterhalb des General-Carrera-Sees, 250 Kilometer südlich von Coyhaique, schließt sich der Wald wieder zwischen Pazifik und den Anden. Satellitenfotos zeigen freilich zwei gigantische weiße Flecken: die Campos de Hielo, enorme Gletscherfelder, die drittgrößte Süßwasserreserve der Erde.

Beste Reisezeit für die Carretera Austral: Oktober bis März. Die restlichen Monate sind kalt und sehr feucht. Regenkleidung sollte immer dabei sein. Informationen: www.sernatur.cl

Den Einstieg in die Carretera per Schiff ab Puerto Montt oder Chiloé bietet die Naviera Austral (www.navieraustral.cl). Tipp: Auto mieten über die deutsch-chilenische Agentur ContactChile (www.contactchile.cl).

Überall auf der Strecke gibt es einfache bis komfortable Unterkünfte zwischen 20 und 60 Euro (DZ/Nacht). Deutlich billiger und trotzdem gut: die vielen schönen Zeltplätze.

Ausgerechnet der Wasserreichtum könnte zum Fluch für die Region werden: Ein spanisch-chilenisches Joint Venture will bis 2019 fünf Staustufen in den Flüssen Baker und Pascua errichten und 2,7 Gigawatt Leistung erzeugen. Gegen das Projekt hagelt es Proteste, Umweltschützer kritisieren den Eingriff in unberührte Natur, um den Stromhunger Zentralchiles zu stillen. Zu den Staudämmen gehört eine Hochspannungstrasse, die, so die Befürchtung, Landschaft zerstören und dem Tourismus schaden wird.

Wegen vieler Eingaben verzögert sich das Projekt - dass es verhindert werden kann, glauben nur wenige. Villa OHiggins, der vorläufige Endpunkt der Straße, wurde erst 1997 angeschlossen. Wenige hundert Menschen leben hier vor der grandiosen Kulisse des südlichen Gletscherfeldes. Seine Zungen, die an vielen Stellen ins Meer münden, sind eigentlich unüberwindbare Barrieren für den Lückenschluss zum Torres-del-Paine-Park. Trotzdem macht der Cuerpo Militar del Trabajo, der Bautrupp des Militärs, weiter. Mit schwerem Gerät will man die „territoriale Integrität“ herstellen. Für die Fertigstellung peilt man das Jahr 2040 an. Immerhin - bis dahin dürfte auch die Dankbarkeit gegenüber Augusto Pinochet verblasst sein.

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