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Die meisten Patienten sind Waisen

■ Deutschlands erste Tagesklinik für HIV-infizierte Kinder

Bei ihrer Arbeit erlebt Doktor Ilse Grosch-Wörner „fast jeden Tag eine Katastrophe und Tränen.“ Am Samstag strahlte sie. Die Oberärztin der Kinderabteilung am Universitätsklinikum Rudolf- Virchow konnte Deutschlands erste Tagesklinik für HIV-infizierte und aidskranke Kinder eröffnen: „Ein schöner Tag.“

Dem Freudentag waren weniger schöne Jahre vorhergegangen. Frau Grosch-Wörner behandelt seit 1985 an der Universitätsklinik HIV-infizierte Kinder. Ab 1987 finanziert durch einen Modellversuch der Bundesregierung, aber dennoch „unter schlimmen Umständen“. Kaum Personal, kaum Räume: „Um der Kinder willen haben wir weitergemacht, aber es war furchtbares Flickzeug.“ Nicht mal ein Wartezimmer gab es; schwerkranke Kinder, die Infusionen bekamen, mußten mit dem Tropf im Gang sitzen und dort oft schlafen. „Jetzt endlich“, sagt Frau Grosch-Wörner, „können wir legitim und fruchtbar für die Kinder arbeiten.“ Die Krankenkassen finanzieren zehn Räume und ausgebildetes Personal: vier Ärztinnen, drei Schwestern, eine Sozialarbeiterin und eine Psychologin wollen die Kinder möglichst ganzheitlich betreuen.

Die Tagesklinik will den Kindern die Ängste vor dem Krankenhaus nehmen. Sie kommen morgens und können abends wieder gehen, werden also nicht aus ihrem Alltag herausgerissen. „Aids“, meint Frau Grosch-Wörner, „ist nicht unbedingt ein Schicksal.“ Eine HIV-Infektion kann man nicht rückgängig machen, aber man kann sie in Schach halten, durch Infusion von Immunglobulinen zum Beispiel. 160 HIV-gefährdete und HIV-infizierte Kinder haben die Klinik bisher aufgesucht, 25 davon sind an Aids erkrankt. Ziel der Ärztinnen der Tagesklinik ist es, Sekundärerkrankungen zu verhüten und frühzeitig zu behandeln. Für die Kinder bedeutet das lebenslange ärztliche Überwachung.

Ihre Ängste, die sie oft nicht aussprechen können, sollen die Kinder mit Filzstift, Ton oder Speckstein artikulieren. Die Psychologin Gabriele Wilke versucht in einem eigenen Raum mit Hilfe der Kunsttherapie Zugang zu den Kindern zu bekommen. Die psycho-soziale Betreuung ist bei HIV- infizierten Kindern wichtiger als bei anderen Patienten: Fast immer wurden die Kinder im Mutterleib infiziert. „Die Mütter von 1985 sind alle tot“, sagt Frau Grosch- Wörner, „nach fünf, sechs Jahren sind dreiviertel der Kinder Waisen.“

Unterdessen hat die Klinikleiterin schon einen neuen Traum: Eine Familienklinik, in der Kinder und Eltern zusammen Hilfe finden und einander nahe sein können. Kai Strittmatter

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