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Die letzten zehn Tage„1. Detlef schläft jetzt. 2. Jenny schreibt.“

Bei den Geschwistern gibt es zu Weihnachten lecker Biobier, bei den Eltern ist dagegen immer 1945

Weihnachten in der Familie ist ein gemischtes Gefühl. Früher fuhr ich immer nach Hause, weil meine Mutter an schweren Depressionen litt und ständig in Kliniken war. „Von den zwölf Leuten, mit denen ich in Zwesten war, sind acht schon tot“, sagt sie. Sie leidet an der Diskriminierung, der psychisch Kranke immer noch ausgesetzt sind. Die sind ja verrückt und ticken nicht richtig. Früher arbeitete sie in der Kreisverwaltung. Irgendwann ging es nicht mehr. Sie erzählte einer Kollegin von ihrer peinlichen Krankheit, „und die ging dann ins andere Zimmer und hat laut gerufen, ,Frau Kuhlbrodt muss zum Psychiater‘, und später war sie dann auch selber da.“

Überhaupt ist die Kleinstadtwelt der Älteren geprägt davon, dass die einen immer mehr scheinen wollen als sie sind und andere mit großem Vergnügen herabsetzen. Mit dem Tod ihrer Eltern war ihre Krankheit dann besser geworden. Inzwischen fahre ich jedes Jahr nach Lübeck, um meine Nichten nicht zu enttäuschen, das heißt, mich mit ihnen zu freuen. Im Nachmittagszug nach Lübeck war es angenehm still und kaum jemand sonst. Irgendwann sagte der Schaffner zu einem jungen Mann, der in Tolkiens „Herr der Ringe“ las: „Waren Sie der Herr mit dem Problem?“ – „Ja.“ – „Macht nichts und frohe Weihnachten!“

Das Weihnachtssingen war schon vorbei, als ich bei meiner Schwester ankam. Meine Schwester ist Krankenschwester und auf Diabetes spezialisiert; ihr Mann ist oft arbeitsloser Architekt. Beide leben in einer Haushälfte in einer Vorstadtsiedlung von 1927 und gehören zur Kernabonnentenschar der taz mit Genossenschaftsanteilen. Es gab Biowürstchen, lecker Biobier und Kartoffelsalat. Die Kinder bekamen „Herr Rossi sucht das Glück“. Altes Geschenkpapier wird wiederverwendet. Jenny bekam das ökologisch orientierte Computerspiel „Löwenzahn“ mit Peter Lustig und seinem berühmten Bauwagen (der innenpolitische Sprecher der Berliner CDU heißt dagegen Roland Gewalt). Es funktionierte nicht richtig auf dem PC. Nun muss ein neuer gekauft werden. Für die Kinder gab es noch „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“-Bücher, Donald Duck, Puzzle mit 500 Teilen, eine Tafel zum Raufschreiben.

Mein Bruder Olaf ist 34, lebt noch bei den Eltern und hat sich unter dem Namen Lolli ins Telefonbuch eintragen lassen. Der Pastor fragte immer, wie geht es denn „Olli“. Meine Eltern schenkten uns jeweils 150 Mark. Auf der schönen Karte, die mein Vater auf seinem Computer gestaltet hatte, stand: „Am besten ist doch noch immer der blanke Schein. Viel Spaß damit!“ Katja ist 15 und schenkte ihren Kaninchen Knabberstangen und Kohlrabi in Sternform. Jenny ist elf, leicht behindert und in erster Linie ein Sonnenschein. In ihrer Klasse sind drei Behinderte. Manchmal wird sie gehänselt. Die Arbeiten der Behinderten werden nur benotet, wenn sie gut waren. Jenny fehlt wohl ein Mathe-Gen. In Deutsch, Englisch und Bio ist sie ganz gut. Nachmittags geht sie in „die Betreute“: „Wenn man mal Scheiße sagt, flippt die Lehrerin gleich aus. Schiete und Mist darf man sagen.“ Aus der Hauptschule bringt sie Wörter wie „Fotze“ und kindgemäße Witze nach Hause: „Was ist grün und wird rot, wenn man auf den Knopf drückt? – Ein Frosch im Mixer!“

Am Morgen des ersten Weihnachtstages kommt Jenny immer in mein Bett und wir gucken Fernsehen. „Wusstest du schon, dass bei den Teletubbies die ganze Welt aus Spielzeug ist?“ Nach dem Mittagessen (Rouladen) schrieb sie auf ihre neue Tafel: „1. Detlef schläft jetzt. 2. Jenny schreibt. 3. Karin schläft jetzt. 4. Harald ist auf Klo. 5. Katja spielt Computer.“

Am ersten Weihnachtstag fahre ich immer zu meinen Eltern nach Bad Segeberg. Der Bus von Lübeck nach Segeberg kostet mit Bahncard 2,90 Mark. Drei Leute saßen drin. Die Weihnachtstage bei meinen Eltern sind immer 1945. Mein Vater schweigt meist. Meine Mutter erzählt am Abend immer und ununterbrochen vom Verschüttetwerden und vor allem von der Zeit zwischen Februar und Mai 45, wo sie als 13-Jährige ganz allein auf der Flucht war irgendwo in der Niederlausitz. Russische Soldaten sagen: „Komm Paninka!“ Am meisten Angst hatte sie vor den Mongolen gehabt.

Wenn die Kinder nicht da sind, gibt es morgens oft schon Scheinhinrichtungen, und danach dann in die Marienkirche.

Detlef Kuhlbrodt

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