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BONNAPARTDie lärmende Leere

■ Schreckenssekunden für ein verwaistes Bonn

Die gestern wieder in die Stadt einfallenden Parlamentarier und die umherirrenden Neu-Abgeordneten aus der ehemaligen DDR haben die Stadt beruhigt. Die Tage zuvor hatten Bonn unerwünschte Gelegenheit geboten, sich einzuüben in neue Verhältnisse. Weil die Parlamentarier und ein Großteil der Bundesregierung bei den Parteitagen von SPD, FDP und CDU weilten oder sich zur Vereinigungsfeier in Berlin aufhielten, im Schlepptau die zahlreichen Hauptstadt-Korrespondenten, herrschte im Regierungsviertel weltabgeschiedene Ruhe. Zur Kenntlichkeit enthüllt, wurde der kurstädtisch verträumte Charakter nur unterbrochen vom Lärm der Baumaschinen an diversen Baustellen. Mit Beton wird der Anspruch untermauert, nach vierzigjährigem Provisorium als Hauptstadt den Regierungssitz in die Einheit hinüberzuretten. Tatsachen schaffen, festhalten, was möglich ist, heißt die Devise; man meint manchmal, die Panik zu spüren, die sich hinter der emsigen Bautätigkeit versteckt. Seit gestern ist wieder ein Stück geschafft: Der Eisenbahnwaggon, den Kanzler Adenauer auf seinen Reisen benutzte, wurde in den Rohbau des Hauses der Geschichte der Bundesrepublik eingelassen: Den kann Bonn keiner mehr nehmen.

Bonn-Treue ganz anderer Art bei der Abgeordneten Jutta Österle- Schwerin (Grüne). Sie war wohl die einzige Parlamentarierin, die nicht an der ersten Plenarsitzung des gesamtdeutschen Parlaments in Berlin teilnahm, sondern in Bonn arbeitete. „Ich hab' doch kein Rad ab“, erklärte die zu den Linken der Fraktion zählende Deutsch-Israelin und Vertreterin der Zweistaatlichkeit; die eigene Niederlage auch noch mitzufeiern, sehe sie keinen Anlaß.

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Im Vollgefühl des Erfolgs kann Bundeskanzler Kohl auch die dunklen Stunden seiner Karriere an sich herankommen lassen. Finanzminister Waigel (CSU) erinnerte auf dem Vereinigungsparteitag der Union in Hamburg an den Frühling des vergangenen Jahres, als Kohls Kanzlerschaft an einem seidenen Faden hing, angesichts verheerender Wahlniederlagen die Verschwörer in den eigenen Reihen bereits in den Startlöchern saßen. Zurückgelehnt, breit schmunzelnd, reagierte Helmut Kohl; wie Bilder aus einem anderen Film, einer anderen Zeit hinter dem Horizont, mag es dem Kanzler vorkommen: Jetzt kann er dies als eine Huldigung ganz besonderer Art entgegennehmen. Zu seiner neuen Umlaufbahn als gesamtdeutscher Kanzler, losgelöst von den Parteiniederungen, gehört auch abends im Prunksaal des Hamburger Rathauses das fast demonstrativ angeregte Gespräch mit jenen, die er damals aus dem sinkenden Kanzler- Schiff stieß, um wieder Auftrieb zu bekommen: der ehemalige Sprecher des Kanzlers, Friedhelm Ost und der wegen seiner sturen Haltung bei der Abrüstung und der Tieffliegerei abgestürzte Verteidungsminister Rupert Scholz. Gerd Nowakowski

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