Die ideenreiche Kunst der Ukraine: Kartografie eines gebeutelten Alltags
Welche Kunst ist möglich, wie funktionieren Ausstellungen, wenn im Land Krieg herrscht? Eine Reise durch die Undergroundkunstszene in der Westukraine.
Uschhorod heißt die heimelige Hauptstadt der Region Transkarpatien, auf Ukrainisch „Zakarpattya“ – sie liegt fernab der Metropole Kyjiw direkt an der slowakischen Grenze und unweit der polnischen und ungarischen. Außerhalb der Altstadt ragt der brutalistische Betonriegel des Hotels Intourist Zakarpattya imposant in die Höhe – man kennt es als Schauplatz der Sextourismus-Szenen in Ulrich Seidls Film „Import/Export“ von 2007.
Der vom ungarischen Architekten Gere Mihály entworfene, 1979 eröffnete vierzehnstöckige Bau wirkte schon Mitte der nuller Jahre schäbig, jetzt ist er komplett heruntergekommen. In den von modrigem Geruch erfüllten Gängen fehlt teilweise das Parkett, Flecken an der Decke weisen auf undichte Rohre hin. Nach dem Zerfall der UdSSR stand das Gebäude weitgehend leer – ein Monument des gescheiterten sowjetischen Größenwahnsinns.
Doch jetzt haben viele Binnengeflüchtete aus dem Osten und Süden der Ukraine dort eine vorübergehende Bleibe gefunden, denn in Transkarpatien ist es ruhiger und sicherer als anderswo im kriegsgebeutelten Land. Neben den Geflüchteten und Reisenden leben im Intourist Zakarpattya auch Künstler:innen. Petro Ryaska initiierte 2016 die Artist Residency „Sorry No Rooms Available“, benannt nach der entsprechenden Auskunft auf der Hotel-Homepage.
Es ist eines der wenigen Künstler:innen-Programme in der Ukraine und eines mit eindrücklicher Aussicht – vom Atelier, das ein umgewandeltes Hotelzimmer ist, überblickt man die Plattenbaulandschaft Uschhorods. Die ersten Jahre hätte das Personal nicht einmal etwas vom Künstler:innen-Programm gewusst, auch nicht das an der Rezeption, berichtet Ryaska. Seit der Großinvasion sei aber die Nachfrage nach Plätzen gestiegen, die Residency gewachsen.
Die Künstler:innen bekommen zum Leben eines von vier renovierten Zimmern, die zuvor „mäusedicht“ gemacht und gegen Schimmel imprägniert wurden, sowie einen Platz im Atelier. Sie bleiben ein oder zwei Monate, manchmal länger, kriegen Spesen, Geld für Arbeitsmaterialien und die Fahrtkosten erstattet. Das wird unter anderem finanziert von der Académie des Beaux Arts in Frankreich. Es gibt wegen der russischen Luftangriffe auf die Energieinfrastruktur immer wieder Stromausfälle. Eine Herausforderung in den kalten Monaten – das Hotel kühlt schnell ab.
Wiederherstellung des Selbstwertgefühls
Die Ateliertische im Intourist Zakarpattya sind jetzt mit Schminkutensilien zugestellt, mit den Arbeitswerkzeugen der Kuratorin Dana Brezhneva und der Fotografin Natalka Diachenko. Die beiden haben 2016 die NGO „Museum offen zur Reparatur“ mitgegründet. Zu Beginn der russischen Großinvasion im Februar 2022 evakuierte die NGO Museumsexponate aus frontnahen Gebieten, die durch die dortigen Kampfhandlungen besonders gefährdet waren.
Doch im Hotel in Uschhorod verfolgen die beiden eine etwas andere Mission: Als „Photoatelier of Wonders“ schminken und fotografieren sie Frauen. Diachenko sagt: „Bei unserem fotodokumentarischen Projekt geht es um die Unterstützung und die Suche nach Ritualen der Selbsterhaltung und Erholung für alle, die von der brutalen russischen Invasion in der Ukraine betroffen sind.“
Sie begannen das Projekt bereits vor einem Jahr, zunächst richtete es sich an Binnengeflüchtete, dann weiteten sie es auf freiwillige Helfer:innen aus und auf Frauen, deren Männer im Krieg sind. Inzwischen könne gegen Spende an die ukrainischen Streitkräfte jede:r teilnehmen, erklärt Brezhneva: „Wir machen Make-up, Haare und Fotoporträts und führen mithilfe einer schriftlichen Umfrage eine Studie über die Einstellung der Teilnehmer:innen zu ihrem Aussehen durch.“
Verluste, die jeder kennt
Mit dem Fragebogen möchten sie Veränderungen im Zusammenhang mit dem Krieg erfassen, erklärt die studierte Psychologin, die sich jüngst auf Traumapsychologie spezialisiert hat. Bei den Schmink- und Fotosessions können die Kund:innen über ihre Sorgen und schlimmsten Erfahrungen sprechen. Jede:r in der Ukraine kennt eine Person, die gestorben ist oder verletzt wurde, viele haben ihre Häuser verloren oder fürchten um ihre Liebsten an der Front.
Einer der Künstler der Residenz wurde während seines Aufenthalts in Uschhorod vom TZK, der Einberufungsbehörde, eingezogen. Die Angst davor ist bei vielen ukrainischen Männern groß und betrifft auch die Kunstszene. Zugleich sammeln fast alle Spenden für ihre Freund:innen, die freiwillig zur Armee gegangen sind oder verpflichtet wurden – für Ausrüstung, Fahrzeuge oder Drohnen. Die Solidarität ist deutlich zu spüren.
„Sorry No Rooms Available“ gehört zum künstlerischen Underground in der Ukraine. Was hier passiert, bewegt sich abseits der namhaften Szene, wie sie sich vor allem um den Oligarchen Viktor Pinchuk entwickelt hat. Er betreibt mit dem Pinchuk Art Center in Kyjiw seit 2006 den wohl wichtigsten Ort für Gegenwartskunst im Land und hat auch international das Bild einer zeitgenössischen ukrainischen Kunst geprägt.
Für die diesjährige Biennale in Venedig initiierte er im Palazzo Contarini Polignac eine prominent besetzte Ausstellung, die auf den anhaltenden Krieg im Land und den Widerstand gegen die russische Aggression aufmerksam macht – mit Werken von Künstler:innen wie Nikita Kadan und Zhanna Kadyrova. denen Pinchuk zu internationaler Bekanntheit verholfen hat.
Die Kunstszene im Underground und die um einen Mäzen wie Pinchuk sind in der Ukraine allerdings keine strikt voneinander getrennten Sphären, die Kunstwelt ist überschaubar – international erfolgreiche Künstler:innen wie Nikita Kadan und Pavlo Kovach, Mitglied der „Open Group“, die in diesem Jahr den polnischen Pavillon in Venedig bespielte, haben auch im Hotel in Uschhorod residiert. Jetzt dient Kovach bei der Armee im umkämpften Osten des Landes.
Galerie in der Wohngemeinschaft
Eine Nachtzugfahrt nördlich von Uschhorod entfernt liegt Lwiw. Dort gibt es eine Künstler:innen-WG, die ein Zimmer ihrer Wohnung zu einer Galerie umgenutzt hat. Der Kunstraum Mizhkimnatnyi Prostir (Zwischenzimmerraum) wurde 2021 von Viktoriia Dorr und Denys Pankratov, der ebenfalls bei der Armee ist, ins Leben gerufen.
Dort kann man die Ausstellung „Unter den Füßen“ des 27-jährigen ukrainischen Künstlers und Grafikdesigners Attila Hazhlinsky sehen, der auch in der WG lebt. „Ich spazierte durch die Stadt und schaute unter meine Füße. Irgendwann fing ich an, sehr ausdrucksstarke Objekte zu bemerken: Müll, verlorene Gegenstände, Objekte des Verfalls“, erklärt Hazhlinsky. Für die Ausstellung zeichnete er mit feinen Linien die Umrisse dieser Objekte nach und ergänzte sie mit solchen aus seiner Fantasie.
An den Altbaufenstern des Galerieraums ist sternförmig Paketband aufgeklebt – sollte ein Geschoss in der Nähe einschlagen, splittern die Fenster so nicht in kleinste Stücke, die gefährliche Verletzungen zufügen können. Hazhlinsky hat dieses Sternmuster in eine seiner Zeichnungen integriert. Sie hängen nun als Drucke auf großen Papierfahnen von der Decke der kleinen Galerie. Eine Zeichnung zeigt ein Reh, das sich in der Landschaft auflöst, eine weitere einen schwebenden Faden. Insgesamt bilden sie eine sehr konkrete und zugleich abstrakte Kartografie des kriegsgeprägten Alltags in der Ukraine.
Ein anderer bekannter Underground-Spot in Lwiw ist die Galerie tymutopiapres in der am Rande der Stadt gelegenen Garage des Künstlers Lubomyr Tymkiv. Dort kann man Tymkivs Ausstellung „… und sagt nicht, ihr hättet es nicht gesehen“ mit sowjetischen Kunstbänden aus den 1960ern bis 80ern sehen. Die Publikationen widmen sich der Kunst des „kapitalistischen Westens“, kritisieren sie für ihre angebliche Dekadenz, machen sie aber zugleich der sowjetischen Leserschaft überhaupt erst bekannt.
Eines der Bücher trägt den Titel „Krise des Unfugs“, auf dem Cover ist Picassos „Stillleben mit Ochsenschädel“ von 1942 abgebildet, andere präsentieren der sowjetischen Leser:innenschaft die Kunstwerke des „rottenden“ Westens – Pollock, Warhol – sogar in Farbe. Nun liegen die per eBay zusammengesammelten Bücher in der Garage auf zwei Tischen aus, einzelne Seiten sind als vergrößerte Drucke an den grauen Wänden angebracht. „Diese Ausstellung entlarvt den Mythos der sowjetisch-ukrainischen Künstler, die immer sagten, dass sie hinter dem Eisernen Vorhang lebten und nicht wussten, was in der Weltkunst geschah“, witzelt Tymkiv.
Er selbst gilt als Pionier der Mail Art in der Ukraine, 2011 begann er mit den Garagen-Ausstellungen. Auch Tymkiv war einmal Resident bei „Sorry No Rooms Available“. Nach dem Ausstellungsbesuch laden er, seine Frau, die als Restauratorin und Kunstpädagogin arbeitet, und sein Vater, pensionierter Restaurator, zu einer Tasse Tee und einigen Gläschen Cognac in die Küche ein.
Tymkiv senior gibt, unter dem Eindruck der alten Kunstbücher in der Garage, Anekdoten aus der Sowjetunion zum Besten. Etwa wie er als Praktikant in einem Betrieb mithilfe seines Mantels geschickt Thermoskannen entwendete. Die Stimmung ist herzlich, und man vergisst für kurze Zeit beinahe den Krieg.
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