Die eine Frage: Schafseckel
Ist Günther Oettinger der erste „EU-Kommissar der AfD“ – oder sind die Grünen demokratiegefährend?
Peter Unfried ist taz-Chefreporter
Günther H. Oettinger aus Ditzingen ist ehemaliger Ministerpräsident von Baden-Württemberg, langjähriger EU-Kommissar und damit einer der wichtigsten deutschen Politiker des letzten Jahrzehnts. Was er als Ministerpräsident politisch geleistet hat, weiß kaum einer. Was hängen geblieben ist: dass er bei einer Grabrede seinen Vorgänger, den Nazi-Richter Filbinger, entnazifizieren wollte. Ansonsten glauben Millionen, dass er kein Englisch kann (was nicht stimmt), aber seine politische Arbeit als Kommissar verfolgen nur ganz wenige.
Als er nun die gesellschaftspolitische Aufklärung in Deutschland und China stammtischhumoristisch kritisierte („Pflicht-Homoehe“) und Chinesen „Schlitzaugen“ nannte, gab es den reflexhaften Aufschrei, er sei als homophober Rassist (oder umgekehrt) untragbar für ein europäisches Spitzenamt.
Die für Empörung zuständige Grünen-Vorsitzende Simone Peter reagierte auf Twitter zwar ungewohnt intellektuell („Uuuhh“), dafür nannte der EU-Abgeordnete Albrecht den Kollegen Oettinger „einen wie Trump“ und der nordrhein-westfälische Landtagsabgeordnete Arndt Klocke twitterte vom ersten „Kommissar der AfD“. So was gehört bei manchen Grünen inzwischen zur politischen Kultur. Wer nicht auf 8,4-Prozent-Linie ist, ist Trump und AfD. Geht’s noch?
Worin unterscheidet sich dieser Populismus qualitativ von Oettingers Populismus: womöglich darin, dass er am Ende demokratiegefährdender ist? Zu oft werden nur die Hassprojektionen des rechten radikalisierten Kleinbürgertums umgedreht zu linken Hassgeneratoren.
Oettinger, sagte mir ein EU-Spitzenpolitiker, der ihn seit Langem kennt, sei einfach ein „Schafseckel“. Das ist ein schwäbisches Kritikwort und eine deutliche Steigerung gegenüber einem einfachen Seckel. Etwa so schlimm wie Grasdackel.
Klar: Oettinger bedient sich bei seiner atem- und geistlosen Pointenjagd eines antiquierten und also mäßig emanzipierten Welt- , Menschen- und Feindbildes, zum Beispiel verteidigt er auch die Zeitung als höherwertiges Kulturgut gegen die angeblich flachen Mediennutzungsgewohnheiten der jungen Leute.
Aber er ist kein Trump und kein AfD-Kommissar, diese Behauptung ist faktisch und politisch falsch. Er ist ein Europäer. Überzeugter. Er spaltet weniger als hysterische Grüne. Wer Politiker von sozialdemokratisch-konservativ-liberalen Parteien an den rechten Rand rückt, holt den Rand in die Mitte und verhält sich nicht moralisch, sondern verantwortungslos. Unsere Gesellschaft ist heterogen. Wir haben keine andere. Durch Ausgrenzung wird sie nicht stabiler.
Wer nun ausrastet und mir schreiben will, ich verharmlose und leiste damit dem Barbarismus Vorschub, und wer nicht Berufsmoralist wie Volker Beck ist, den bitte ich inständig, vom moralischen in den politischen Modus zu wechseln. Es war eine schöne Zeit mit den ganzen Sprachreinigungskommandos, aber vor lauter Symbolkonflikten und Metasymbolkonflikten diskutieren wir nicht das, was real ansteht und alle betrifft. Etwa die sozialökologische Transformation.
Ein echtes politisches Problem ist, dass Oettinger künftig als Haushaltskommissar an der sensibelsten Stelle der Europäischen Union arbeitet, wo es um Ausgleich, um Ausbalancierung materieller Konflikte und Ungleichheiten zwischen Nord und Süd geht. Aber er geriert sich ständig als deutscher beziehungsweise noch enger als Merkels und Schäubles Kommissar. „Die EU braucht jetzt kluge Vermittler“, sagt Europas Statesman Daniel Cohn-Bendit. „Aber Oettinger ist keines von beiden, weder klug noch ein Vermittler.“
Das ist die politische Sprengkraft, die von Kommissar Schafseckel ausgeht.
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