: Die Welt auf der 236. Stufe
Vom Turm der Krakówer Marienkirche beobachtet Jan Boron, wie seine Stadt mit den neuen Zeiten fertig wird. Punkt zwölf Uhr wird er nervös ■ Aus Kraków Bernd Siegler
Die wenigen Lampen durchdringen kaum die Dunkelheit, die dicken Mauern schlucken den Lärm von draußen. Steil führen die Treppen in engen Kurven nach oben. 236 Stufen, dann hat Feuerwehrmann Jan Boron seinen Arbeitsplatz erreicht: Die Turmstube der Marienkirche in Kraków. Ein ungewöhnlicher Einsatzort.
54 Meter über Europas größtem mittelalterlichen Platz hantiert der 36jährige nicht mit Schläuchen oder Wasserspritzen. Die Trompete ist sein Handwerkszeug – und sein ganzer Stolz. Denn er weiß, daß jeder Einwohner von Polens zweitgrößter Stadt und auch jeder Besucher ihn schon einmal in Aktion gehört hat. Obwohl Boron zweifellos eine Touristenattraktion ist, würde ihn niemand auf der Straße überschwenglich begrüßen. Keiner würde ihn kennen.
Der Feuerwehrmann Jan Boron bläst den Hejnal. Seit über 600 Jahren erinnert dieses zu jeder Tag- und Nachtstunde erklingende Signal an den Einfall der Tartaren in die Stadt im 13. Jahrhundert. Die Melodie endet heute noch genauso abrupt wie damals, als der Turmwächter, von einem Pfeil tödlich getroffen, zusammenbrach.
Ist die volle Stunde erreicht, streicht Boron seinen mächtigen Schnauzbart glatt, setzt seine blaue Uniformmütze auf und entlüftet sein Instrument. Dann bringt er die Kirchenglocke in Schwung, öffnet ein kleines Turmfenster und bläst den Hejnal über Krakóws Dächer hinaus in alle vier Himmelsrichtungen. Nach Süden zum Wawel, dem Königsschloß an der Weichsel- Biegung, nach Westen Richtung Rathaus, nach Norden hin zum Florianska-Tor, durch das die Gäste in die Stadt kommen, und Richtung Osten, wo die Feuerwehr residiert und in der Ferne die rauchenden Schlote des ehemaligen Lenin- Stahlkombinats zu sehen sind.
„Früher mußten wir von hier oben nach Bränden Ausschau halten, heute ist das Hejnal-Blasen unsere einzige Aufgabe“, erzählt Boron. Und diese Aufgabe nimmt er ebenso ernst wie früher die Warnung vor Feuer. Vergessen hat er den Hejnal in all den Jahren noch nie. Einem Kollegen von ihm ist das einmal passiert, ausgerechnet als der ehemalige Staatspräsident Walesa zu Besuch in Kraków war. Das blieb nicht ohne Folgen: „Da hat man ein rechtes Theater daraus gemacht, er erhielt eine Abmahnung und bekam Vergünstigungen gestrichen.“
Eigentlich dürfte Jan Boron nicht allein seine Schicht ableisten. Seit ein Turmbläser hoch oben in der Stube einen Herzinfarkt erlitten hatte, sind immer zwei Mann vorgeschrieben. Aber wie alle anderen Institutionen in Kraków muß auch die Feuerwehr sparen. So sitzt Boron die 24 Stunden oft allein in seinem Turm. Wenn seine Ablösung krank ist, dann werden daraus auch schon einmal 48 Stunden.
Richtig nervös wird er nur einmal pro Schicht. Um Punkt zwölf Uhr, wenn der Hejnal live über Radio in ganz Polen übertragen wird. Drei Wecker und ein Funksignal sorgen dafür, daß er diesen entscheidenden Auftritt nicht verdöst. Ein Stuhl, ein Tisch, eine Kochplatte mit einem zerbeulten Wasserkessel, ein alter Kalender aus dem Jahr 1995, die Rettungsseile an der Wand, ein Radio und ein Fernseher, eine kleine Toilette und im Nebenzimmer eine zerschlissene Couch nebst einem elektrischer Heizlüfter und an der Wand das obligatorische Marienbild – das ist die ganze Einrichtung. Deshalb schaut Boron oft aus dem Fenster, hinunter auf den Rynek. Dort pulsiert das Leben, wie wohl in keiner anderen Stadt in Polen. Die Terrassencafés, die den 200 mal 200 Meter großen Platz säumen, die im italienischen Renaissance-Stil errichteten Tuchhallen in dessen Mitte, die Jazzkeller in den Gewölben, die vielen Fiaker und Rikschas, die Tauben, die Musikanten, Jongleure und fliegenden Händler sorgen für ein südländisches Flair. Hoch über den Dächern beobachtet Boron den Umbruch, den seine Stadt mit ihren 750.000 Einwohnern durchmacht. Überall stehender Verkehr, überall Baustellen, neue Häuser aus Glas und Beton spitzen zwischen den alten hindurch. Rote Ziegeldächer ersetzen nach und nach die häßlichen grauen Blechdächer. „Die kümmern sich jetzt um den Aufbau“, erzählt er, „alles wird schöner, so, wie es früher mal war.“
Manches wird, wie es früher nicht war. „Unten beim Adas“, wie er die Statue des polnischen Nationaldichters Adam Mieckiewicz nennt, da sitzen jetzt viele, die nichts zum Leben haben. „Die streunen herum und schauen nur, was sie stiebitzen können.“ Offiziell liegt die Arbeitslosigkeit in Kraków zwar nur bei knapp sechs Prozent, aber die ganze Wahrheit offenbart sich in der ehemaligen Lenin-Hütte. Heute heißt sie Tadeusz Sendzimir, nach einem in die USA emigrierten polnischen Ingenieur. Wo einstmals 40.000 Menschen arbeiteten, sind es jetzt nur noch knapp 17.000. Neue Jobs, meist auf Selbständigenbasis, gibt es nur im Dienstleistungssektor und da vor allem im Tourismus. „Wir sind eben jetzt ein freies Land, aber es gibt keine Arbeit, aber irgendwie werden wir das wohl überleben.“ Resignation schwingt in Borons Stimme mit, aber auch ein Funken Gleichgültigkeit. Sein Arbeitsplatz ist sicher. Alle Überlegungen, das Turmsignal vom Band abzuspielen, scheiterten schon im Ansatz. Der Hejnal soll authentisch bleiben – und das hauptsächlich für die Touristen.
Die strömen nach Kraków ohne Unterlaß. Das war schon zu Zeiten des realen Sozialismus so. 1978 wurde Kraków als erste europäische Stadt von der Unesco als Weltkulturerbe ausgezeichnet. Ein Verdienst letztlich der Roten Armee. Die kam den Nazis zuvor, die die Hauptstadt des Generalgouvernement schon zur Sprengung freigegeben hatten. So aber blieb die Bausubstanz, eine Mischung aus Romantik, Gotik, Barock und Klassizismus unzerstört.
Jährlich besuchen 2,5 Millionen Touristen die „Stadt der sprechenden Steine“, wie die einstige Hauptstadt Polens sich selbst bezeichnet. „Uns wird vorgeworfen, daß wir nicht so viele Besucher haben wie Prag, aber wir wollen nicht, daß sich die Menschenmassen nur noch durch die Straßen schieben“, betont Krakóws Bürgermeister Jozef Lassota. Der 54jährige ehemalige Solidarnośź- Aktivist, der seit fünf Jahren an der Spitze der Stadt steht, sieht bei fünf Millionen Besuchern die absolute Grenze erreicht. Lassota will, daß Kraków seinen Charakter bewahrt. „Kraków hat die Atmosphäre einer Stadt, die keinen Anspruch erhebt, Metropole zu sein. Hier fühlt man sich zu Hause.“
Um den Ansturm aus dem In- und Ausland zu entzerren, wird einfach die Saison verlängert. In jedem Monat gibt es zahlreiche Höhepunktveranstaltungen. Dem Jüdischen Kulturfestival folgt das Internationale Kurzfilm-, dann das Militärmusikfestival, dann die Internationale Grafik-Triennale, das Jazzfest, der Orgelsommer und im Dezember das Akademische Kulturforum. Viele Veranstaltungen dienen als Probeläufe für das Jahr 2000. Dann darf Kraków den Titel als europäische Kulturhauptstadt führen.
Prominente Künstler aus der Stadt wie Stanislaw Lem, Andrzej Wajda, die Komponisten Krzysztof Penderecki und Zbigniew Preisner oder die letztjährige Literatur-Nobelpreisträgerin Wislawa Szymborska rühren dafür die Werbetrommel. Wajda, Penderecki und Preisner sitzen sogar im Programmrat des Festivals 2000. „Kultur ist der erste und wichtigste Grund für Touristen, nach Kraków zu kommen“, sagt Artur Dmochowski, Direktor der seit Jahresbeginn existierenden Krakówer Tourismus-Informationszentrale.
Für Kultur hat Jan Boron weder Zeit noch Muße. Er findet es gut, wenn viele Touristen kommen, aber sie treiben eben die Preise hoch. Auf den Märkten Krakóws gibt es zwar alles zu kaufen, doch oft zu unerschwinglichen Preisen. Mit einem Monatslohn von 280 Mark, der zwar dem Durchschnitt eines polnischen Arbeiters entspricht, können die Borons mit ihren drei Kindern keine großen Sprünge machen. Deshalb wohnen sie außerhalb von Kraków, im kleinen Dorf Dabrowa Szlachecka, 20 Kilometer flußaufwärts Richtung Oswiecim (Auschwitz). Dort hat jeder sein eigenes Grundstück. Dort bauen die Borons wie alle anderen Gemüse an, vor allem Kartoffeln und rote Bete. Dafür ist zur Zeit seine Ehefrau Krystyna (34) zuständig, denn ihr Mann Jan zieht nebenan in jeder freien Minute noch ein Haus hoch. Für wen, weiß er nicht, „vielleicht können die Kinder es eines Tages brauchen“. Boron hat sich Schlacke gekauft, fertigt daraus seine Hohlblocksteine und ist mittlerweile beim Dach angelangt. Von dort aus kann er sogar nach Kraków schauen. „Das Leben auf dem Land ist sicher einfacher als in der Stadt“, lautet seine Resümee. Dafür steht er um halb sieben auf, setzt sich in seinen Polski-Fiat, um pünktlich eine Stunde später im Dienst zu sein.
Trompete bläst er schon seit seiner frühesten Kindheit. Das lag in der Familie. Sein Vater und sein Großvater spielten Trompete. Die Tradition führt jetzt sein ältester Sohn, der 13jährige Rafai, weiter. Der kommt seinen Vater auch manchmal in der Turmstube besuchen.
Borons Frau Krystyna dagegen war noch nie oben. Mit den beiden Kleinen Michail (5) und Krzysztof (4) kommt sie die Stufen nicht hoch.
„Meine Frau arbeitet in der Musikschule“, erzählt Boron. Daß sie dort nicht mit Notenschlüsseln hantiert, sondern zur Aufbesserung des Familieneinkommens mit dem Putzeimer, verschweigt er. Und wird sauer, als Krystyna ihre Tätigkeit dann doch genauer beschreibt. Das vergeht, sobald er sich auf seinen Stolz über seine Rolle als Hejnalist besinnt. „Es ist eine große Ehre für mich und meine Familie.“ Jeder im Dorf beneide ihn um seinen Job.
Zufriedenheit erfüllt seine Miene, vor allem, wenn er nach vollendetem Trompetenkurzkonzert von jedem der vier Fenster aus die Menschen unten sieht, wie sie ihm zuwinken. Gern winkt er zurück und nicht nur einmal. Ganz zur Freude der Kraków-Besucher, denn ein Sprichwort besagt: So oft einem der Hejnal-Bläser zuwinkt, so oft wird man in seinem Leben nach Kraków zurückkehren.
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