Die Wahrheit: Top-Preise ohne Schmuddel
Endlich mal eine Branche, die nicht nur in Deutschland boomt. Denn sie hört weltweit auf das Zauberwort Düdelüt.
Film ab: ein heterosexuelles Paar auf der Gartenterrasse. Die Frau blickt leicht betreten drein und der Mann nicht minder. Auf dem Tisch zwei leere Kaffeetassen, Zigarettenasche, Kuchenkrümel, welke Rosenblätter. Über allem eine funzelgraue Wetterlage. „Und wo verkaufen wir jetzt dein Düdelüt?“, fragt die Frau, und der Mann zuckt die Achseln: Er weiß es doch auch nicht …
Da biegt unverhofft der Schauspieler Rocco Sifredi um die Ecke und sagt: „Na, auf wirkaufendeindüdelüt.de! Da ist der Düdelüt-Verkauf schnell erledigt. Gib einfach deine Düdelüt-Details ein, und du bekommst deinen Preis. Kein Verhandeln, kein Stress. Hol dir jetzt deinen Preis bei wirkaufendeindüdelüt.de!“
Szenenwechsel. Ein dicklicher, etwas apathisch wirkender Rentner schlurft durch eine triste Fußgängerzone, als seine Miene sich plötzlich aufhellt, denn er hat Rocco Sifredi erkannt. „Rocco Sifredi!“, ruft der Rentner frohlockend aus, und Sifredi erwidert: „Du willst wissen, wieviel dein Düdelüt wert ist?“ Eifrig nickend und von Freude überwältigt antwortet der Rentner: „Ja, klar!“ Worauf Sifredi die erlösenden Worte spricht: „Auf wirkaufendeindüdelüt.de erhältst du den Top-Verkaufspreis schnell und einfach online …“ Dann wendet er sich an jeden einzelnen deutschen Mann: „Neugierig geworden, was dein Düdelüt wert ist? Meine Empfehlung: Hol dir jetzt deinen Preis bei wirkaufendeindüdelüt.de!“
Videos dieser Art sind jetzt fast überall zu sehen, und sie versprechen nicht zu viel. Auf wirkaufendeindüdelüt.de muss man nur sechs kurze Fragen beantworten: „Welche Bauform hat dein Düdelüt?“ – „Wie lang ist es?“ – „Welches Volumen hat dein Düdelüt im einsatzbereiten Format?“ – „In welchem Jahr ist dein Düdelüt erstmals in Betrieb gegangen?“ – „Wie ist der Kilometerstand?“ – „Planst du auch, ein neues Düdelüt zu kaufen?“ Und schon erfolgt ein Angebot, das man nicht ablehnen kann.
Positiv überrascht
Davon zeugen die Aussagen zufriedener Kunden auf der Website. „Es ging zügig und unkompliziert vonstatten“, heißt es da zum Beispiel. „Ich habe online alles ehrlich eingetragen und vor Ort nach der Prüfung genau den versprochenen Preis bekommen. Vorher hatte ich Sorge, gnadenlos runtergehandelt zu werden, weil ein 72 Jahre altes Düdelüt nun mal nicht mehr taufrisch ist, doch ich wurde positiv überrascht.“
Einem hessischen Metzgermeister ist es nicht anders ergangen: „Der Verkauf meines Düdelüts lief schnell und strukturiert ab. Zum vereinbarten Termin dauerte die technische Prüfung nur etwa 30 Minuten, dann wurde per Auktion der Preis ermittelt und mir mitgeteilt. Anschließend wurde in ca. 10 Minuten der Vertrag erstellt. Das Geld traf am nächsten Tag auf meinem Konto ein; die Abmeldung meines Düdelüts war schon am Verkaufstag erledigt worden.“
Und wie geht das Ganze vor sich? Auf ihrer Homepage erklären die Händler: „Wir verwenden deine eingegebenen Düdelüt-Infos, um dein Düdelüt inklusive aller Sonderausstattungen zu identifizieren. Mit unserer langjährigen Erfahrung und Zugriff auf Daten von über vier Millionen Düdelüts können wir den tagesaktuellen Marktwert deines Düdelüts in kürzester Zeit errechnen. Auch Schäden und Gebrauchsspuren werden dabei untersucht. Neben deinen Düdelüt-Infos analysieren wir fortlaufend den europäischen Düdelüt-Markt. So stellen wir sicher, dir immer ein marktgerechtes und wettbewerbsfähiges Angebot unterbreiten zu können.“
Jeder Ankauf folge einem standardisierten Verfahren: „Vor Ort inspizieren wir dein Düdelüt, überprüfen die Restprofiltiefe, checken deine persönliche Düdelüt-Historie und machen einen Probedurchlauf.“ Außerdem erfährt man dort Näheres zu Themen wie Gebraucht-Düdelüt-Garantie, Kratzer-Entfernung, Wasserschäden, Notverkauf und Abwrackprämie.
Die meisten Düdelüts finden private Abnehmer. Was übrig bleibt, wird tiefgefroren, verschifft, im Kreiskrankenhaus Hongkong aufgetaut und danach von Experten in drei Kategorien unterteilt: Premium-Düdelüts, geringfügig reparaturbedürftige Düdelüts und Ausschussware. Letztere wird geschreddert, mit Knochenleim und Rübenmelasse verquirlt, eingedampft, zentrifugiert, in Natronlauge aufgekocht und zu Kosmetikprodukten weiterverarbeitet: Lippenstifte, Anti-Falten-Emulsionen, cremige Peel-off-Gesichtsmasken oder auch Bartpomade.
Schwung im Handel
„Das ist zur Zeit einer der größten Wachstumsmärkte“, sagt Dr. Volker Emigheim vom Hamburger Weltwirtschaftsinstitut. „Die Branche boomt in einem Ausmaß, das für die Generation unserer Urgroßeltern noch unvorstellbar gewesen wäre. Bis zum Ende des Ersten Weltkriegs haben in ganz Europa jährlich maximal zwei Dutzend Düdelüts den Besitzer gewechselt, und das zumeist in schmuddeligen Hinterzimmern. Da dürfte sich so mancher Verbraucher was weggeholt haben! Die internationalen Zölle auf Düdelüts sind erst 1928 aufgehoben worden, und selbst hinterher hat es noch Jahrzehnte gedauert, bis der Handel damit ein klein wenig in Schwung gekommen ist …“
Als Initialzündung des neuen Trends betrachten Wirtschaftshistoriker die Versteigerung des ungewöhnlich gut erhaltenen Düdelüts der Mumie des ägyptischen Pharaos Usermaat-Ra Pa-Ramessu durch das Londoner Auktionshaus Christie’s im September 2014. Seither verwandeln immer mehr Männer ihr Düdelüt in „klingende Münze“. Allein in Ostwestfalen sind voriges Jahr 16.713 gebrauchte Düdelüts über den Ladentisch gegangen, und selbst im dünn besiedelten Erzgebirge haben die Kommunalbehörden die Zeichen der Zeit erkannt und unter strengen hygienischen Auflagen Düdelüt-Ringtausch-Börsen genehmigt.
Kopfzerbrechen bereitet den Gesundheitsämtern allerdings der Schwarzhandel. Vorwiegend aus Osteuropa, aber auch aus Nordafrika und Südostasien werden immer öfter Düdelüts importiert, deren Herkunft ungeklärt ist. In vielen Fällen handelt es sich um Fälschungen, denen düdelütfremde Zusatzstoffe wie Fleischsalat, Knorpel, Styropor und Nitritpökelsalz beigemischt worden sind.
Auch die Produktpiraterie macht sich hier breit: Im deutsch-niederländischen Grenzort Rütenbrock wurde kürzlich ein Düdelüt sichergestellt, das angeblich von dem Kirchenvater Athanasius von Alexandria stammte und in Wirklichkeit aus einem mit Lakritze und Tapetenresten beklebten Handfegerstiel bestand.
Also: Augen auf beim Düdelüt-Kauf!
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