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Die WahrheitSo nahe all die Fettnäpfchen

Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (226): Die zu den Schnepfenvögeln gehörende Bekassine gilt nicht nur unter Franzosen als dummes Huhn.

Klüger als gedacht bekassint die kleine Schnepfe gelassen vor sich hin Foto: Sunbird/imageBROKER/imago

In die Vogelkunde wird gern Menschliches reingetragen. Bei den Bekassinen gibt es zudem noch eine ­innerfamiliale Verwirrung. Sie gehören zu den „Schnepfenvögeln“, die eine große Familie in der Ordnung der „Regenpfeiferartigen“ bilden. Beim auf der Nordhalbkugel verbreiteten Schnepfentyp sehen sich alle ähnlich, sie brüten hier und überwintern im Süden, haben lange Beine und einen sehr langen Schnabel. Weil die Bekassine („kleine Schnepfe“ auf Französisch) zur Brutzeit Feuchtgebiete besiedelt, nennt man sie in Frankreich auch „Sumpfschnepfe“.

Um ihren bäuerlichen Liebhaber aus der Bretagne aufzumuntern, schlüpft die mit einem Mitterand-Berater verheiratete ­Benoîte Groult „in die Rolle der Bécassine, die unfähig ist, sich das harte Leben des Mannes vorzustellen, und nur eines im Sinn hat: sich beschmusen zu lassen“, schreibt die Schriftstellerin in ihrem Roman „Salz auf unserer Haut“ (1988), in dem sie ebenso freimütig wie elegant über ihre Dreiecksbeziehung berichtet.

Ihre Übersetzerin erklärt in einer Fußnote, dass es sich bei der Bekassine um ein „dummes Huhn“ handelt, das die Hauptfigur einer in Frankreich berühmten Kinderbuchreihe ist: ein einfältiges Bauernmädchen in bretonischer Tracht, „das stets in alle Fettnäpfchen tritt“. Benoîte Groult fährt fort: „Im Allgemeinen besänftigt ihn diese Art von Verhalten. Vielleicht auch diese Art von Frau? Er braucht jetzt Oberflächlichkeit.“

Die Bekassinen haben jedoch ihren langen Schnabel gerade, um unter die Oberflächen zu gelangen. Sie stochern damit in weicher Walderde oder feuchten Böden nach Würmern und Schalentierchen. Sie haben an ihrer „Schnabelspitze einen geschwollenen, mit Hornplatten versehenen Bereich, deren Ränder reich mit Rezeptorzellen zum Wahrnehmen der Beute besetzt sind“. Diese ähneln den Rezeptoren, die Waschbären an ihren Fingerkuppen haben und mit denen sie unter Wasser unter anderem kleine Krebse ertasten, wobei sie konzentriert in die Luft starren. Wahrscheinlich können sie ihre Beutetiere auf diese Weise bildlich sehen. Selbiges gilt vielleicht auch für die Schnepfen.

Liebe zu dritt

Anders als die eine Bekassine mimende Autorin Benoîte Groult, die aus einem reichen Pariser Intellektuellenmilieu kommt – mit leidendem Ehemann und klassenfremdem Sexualpartner –, ist die einen Schnepfenvogel liebende Hauptfigur Mattis in dem norwegischen Roman „Vögel“ (2020) ein armer Bauernsohn, der sich seit 40 Jahren von seiner Schwester Hege aushalten lässt, mit der er zusammenlebt.

Auch hier treibt der Autor Tarjei Vesaas seine Liebesgeschichte (ein „Selbstporträt mit Vorbehalt“) in eine Dreiecksbeziehung, die zugleich das Ende der Geschichte von Mattis einleitet, dessen „Welt flüchtig und fragil ist,“ wie Judith Hermann im Nachwort schreibt. Während Antonia Baum im Nachwort zum Roman von Benoîte Groult über ihre stabile Dreiecksbeziehung schreibt: „Sie darf keine Rücksicht nehmen, das ist doch ihre Kernkompetenz.“

Bei den Bekassinen balzen die Männchen auf dem „Schnepfenstrich“, über den sie laut rufend hin und her fliegen, während die am Boden sitzenden Weibchen sie mit leisen Pieptönen locken. Die Schnepfe von Mattis brütet mit anderen Schnepfen im Sumpf hinter einem Wald, es ist ein Männchen, das seinen Schnepfenstrich eines Tages über das Haus von Mattis und Hege legt. „Das hatte es bislang im Frühling noch nie gegeben.“ Er musste ihr einfach folgen, am Waldrand in einem ausgetrockneten Graben fand er eine Botschaft von der Schnepfe auf dem glatten braunen Boden – bestehend aus „leichten Tritten von Vogelfüßen und in der Erde viele kleine runde, tiefe Stocherlöcher“.

Mattis staunte: „So leicht geht mein Vogel über die Moore, wenn er des Himmels müde ist.“ Er nahm einen kleinen Ast und schrieb ebenfalls eine Botschaft in „Vogelschrift“. „Die Schnepfe wird es entdecken, wenn sie das nächste Mal herkommt. Hier bin sonst nur ich.“ Er schrieb bloß einen kurzen Gruß und hoffte, dass sie ihn lesen würde, er befand sich in Sichtweite des Schnepfenstrichs: ein Wort aus der Jägersprache, denn diese warten gut getarnt unter den Flugbahnen der Männchen.

So heißt es zum Beispiel beim Jäger Dr. Hermann Josef Courth in seiner „Erinnerung“ mit dem Titel „Schnepfenstrich“: „In meinem langen Jägerleben, seit dem Jahre 1953 durfte ich in der Gemarkung Vettweiß das Waidwerk ausüben, ist mir der Schnepfenstrich in bester Erinnerung. Für jeden Flugwildjäger war die Schnepfenjagd ein großes und unvergessliches Ereignis.“

Begehrt am Spieß

Schnepfen am Spieß (zu 95 Prozent sind es natürlich Männchen) sind sehr begehrt, sie werden deswegen immer teurer. Der Lebensmittelkonzern Rewe teilt seinen Kunden mit: „Das Angebot an Schnepfen ist sehr gering, da die Bestände aufgrund des ständig kleiner werdenden Lebensraums leider sehr zurückgegangen sind.“

Die Wikipedia-Autoren meinen, die Vernichtung der Feuchtgebiete und nicht die Jäger und auch nicht die Rewe-Kunden seien für den Rückgang der Schnepfenpopulationen in Mitteleuropa verantwortlich. Sie reduziert nur die Männchen, an denen dafür immer mehr Weibchen in der Saison interessiert sind. Auch die Schnepfe von Mattis wird erschossen, er händigt sie aber nicht dem Jäger aus, sondern begräbt sie unter einem großen Stein.

Auf jagderleben.de heißt es scheinheilig: „Wohl einzigartig in der Vogelwelt ist die Transportmöglichkeit der weiblichen Schnepfe für ihre Küken: Bei Gefahr klemmt sie den Nachwuchs zwischen Beine und Bauch und fliegt mit ihm davon.“

Als die Schnepfen vor neun Jahren aus Afrika nach Norden flogen, wo noch Winter herrschte, kam es in Berlin zu einem Vogelstau: „Momentan“, schrieb die B.Z., „verursachen ihn hier die Waldschnepfen. Hunderte haben sich in der Stadt versammelt – und immer mehr rücken nach.“ Der Wildtierbeauftragte des Senats bekam besorgte Anrufe, „die Vögel still kauernd in Gärten und auf Hinterhöfen gesichtet hatten: ‚Bitte nicht stören. Die Tiere sind nachtaktiv und schlafen am Tage‘, sagte er. Einige Schnepfen verletzten sich beim Anflug auf die Stadt, knallten gegen Hausfassaden. Sie wurden in der Wildvogelstation des Nabu versorgt.“

Der „Brigitte-Erfolgskolumnist“ Oskar Holzberg macht sich Gedanken darüber, was Beziehungen scheitern und was sie gelingen lässt. Dabei kommt er auf die Qualen und Wonnen hervorrufende Dreiecksbeziehung zu sprechen. Ein Paar, bei dem er sich eine Geliebte anlachte: Seine „Partnerin“ will sich deswegen von ihm trennen, ihn aber zugleich zurückerobern, wo sie „doch tausendmal die bessere Wahl ist, verglichen mit der Schnepfe, die er flachgelegt hat“ – dieser Bekassinenjäger.

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