Die Wahrheit: „Hallo, ich bin ja nicht vier!“
Immer ältere Menschen belegen Plätze in den Kindertagesstätten, weil die Wartelisten für die Kitas immer länger und länger werden.
„Thorben, nicht so wild“, ruft Ingeborg Müller quer über den kleinen Hinterhof des städtischen Kindergartens „Heimatkids“. Thorben gibt gerade einem anderen Kitakind Schwung auf der Schaukel. Viel Schwung. Die Schaukel schwingt fast bis in die Horizontale. „Thorben, nicht so hoch mit der Nayla. Mach mal weniger Schwung.“ Nayla juchzt. Oder schreit. So genau ist das nicht auszumachen. „Und du, Nayla, hab dich nicht so!“
Thorben hört auf, Schwung zu geben. „Der Thorben übertreibt manchmal“, sagt die Erzieherin, „Er kann seine Kräfte nicht einschätzen.“ Das ist auch kein Wunder, denn Thorben ist schon 33. Er ist das älteste Kind in der Kita Heimatkids.
„Ja, das kam so“, erzählt uns der studierte Neurochirurg bei einem Becher handwarmer Apfelschorle. „Meine Mutter hat mich gleich nach der Geburt bei der Kita angemeldet. Bei ganz vielen. Aber die Kitas waren damals schon total ausgebucht.“ So kam Thorben erst einmal auf die Warteliste. Und wartete.
„Man meldet sein Kind ja auch nicht an, wenn es schon geboren ist“, sagt Erzieherin Ingeborg im Vorbeigehen, die zufällig mitgehört hat. „Das muss man schon während der Schwangerschaft machen. Oder wenn möglich gleich nach der Zeugung.“
Warteliste fürs Leben
„Meine Mutter hat mich dann zu Hause betreut“, berichtet Thorben, der auch heute noch bei seiner Mutter wohnt. „Der Anspruch auf den Kitaplatz blieb bestehen, der Platz auf der Warteliste auch. Nach Schule und Abitur kamen Studium und Arzt im Praktikum. Und dann hab ich im Krankenhaus angefangen. Das war so vor einem Jahr. Und dann kam ja glücklicherweise der Brief.“
Ein Brief der Kita. Ein Platz war frei geworden. „Weil die Eltern von irgendeinem Kind abgeschoben worden waren, oder so“, sagt das bekennende AfD-Mitglied. „Da bin ich dann natürlich sofort hin. Hab ja einen Anspruch.“ Die Eingewöhnung verlief glatt, die ersten Probleme kamen später. „Vor allem fehlen mir die Gesprächspartner“, sagt Thorben, „ich spiele ja gern, auch stundenlang mit Lego und Playmo, aber …“
Die meisten der über 20-jährigen Kitakinder sind eher links eingestellte umweltbewusste grüne Klischee-Veganer. Auch Silvia M. (23) ist keine große Hilfe. Die Kosmetik-Influencerin hat bei Youtube, Tiktok und Insta eigene Kanäle, „die will immer nur übers Schminken reden, außerdem ist sie ein bisschen dumm“, sagt Thorben.
Doch auch für Silvia ist es manchmal nicht so leicht in der Kita. „Also zuerst mal haben die hier überhaupt kein offenes WLAN, da muss ich immer erst die Erzieherinnen fragen, weil, die ändern ja auch jeden Tag das Password. Dann das Essen, das schmeckt gaaaaar nicht und ist auch nur tu so als ob vegan. Und Mittagsschlaf mag ich auch nicht, ich mein, hallo, ich bin ja nicht vier!“
Malen mit Wasserfarben
„Manchmal malt die Silvia die anderen Kinder mit Wasserfarben an“, wirft Thorben ungefragt ein. „Stimmt gar nicht!“, sagt Silvia. – „Stimmt wohl!“, erwidert Thorben. – „Und du bist eine Petze!“ – „Und du riechst so!“ – „Selber!“ – „Selber-selber!“
Wir versuchen die Situation zu deeskalieren und geben den beiden einen Lolli. „Kirsche mag ich nicht!“, sagt Thorben. „Der ist nicht vegan!“, sagt Silvia, „der ist mit Schildläusen gefärbt.“
„Vor dem Mittagessen gibt es sowieso keine Süßigkeiten“, sagt Ingeborg und nimmt den beiden die Lollis wieder weg. „Menno!“, ruft Silvia. „Diese ständige Bevormundung geht mir auch tierisch auf den …“, schmollt Thorben, „irgendwann verklag ich den Laden.“ Er hat sich schon beim zuständigen AfD-Stadtrat beschwert, Ingeborg Müller zu entlassen.
Aber wieso tun sich Thorben und die anderen Adult-Kids das an, täglich zur Kita zu kommen, wenn es ihnen hier eigentlich gar nicht gefällt? Thorben könnte in seinen Beruf zurückkehren, Silvia von zu Hause aus influencen, ohne gestört zu werden.
„Weil ich einen Anspruch auf diesen Platz habe.“ Thorben wedelt mit einem amtlichen Schreiben herum und stampft mit dem Fuß auf. „Und wissen Sie, wie schlecht man als Arzt im Krankenhaus bezahlt wird? Und dann die 36-Stunden-Schichten und diese … Kranken! Ich hab mich ja überall beworben, aber diese gut ausgebildeten Flüchtlinge nehmen uns die ganzen guten Jobs weg.“
Hat er denn kein schlechtes Gewissen, einem anderen Kind den Platz wegzunehmen? „Das ist doch die Aufgabe von dem Staat, da für mehr Erzieherinnen zu sorgen“, sagt Thorben. Seine Sprachfähigkeit hat unter dem Kontakt mit Jüngeren bereits ein wenig gelitten.
Angespannte Lage
Ja, die Personallage ist auch in der Kita Heimatkind schon seit geraumer Zeit angespannt. Da helfen auch die vielen Streiks nicht, die derzeit von Verdi angezettelt werden. Viele Erzieherinnen arbeiten mittlerweile weit über die Rentengrenze von 67 hinaus. Waltraud Schmidt, die älteste, ist 83. Obwohl sie auf einen Rollator angewiesen ist, kann sie immer noch Geschichten von früher erzählen und leise um Hilfe rufen, wenn ein Kind irgendwo runterfällt.
„Seit über 60 Jahren arbeite ich schon hier“, sagt die rüstige Erzieherin, „und die Arbeit mit den Kleinen macht immer noch Spaß.“ Ins Altersheim will sie noch nicht. „Was heißt will? Meine Rente ist klein, die Kita unterbesetzt. Ich will schon, aber im Moment gibt es keinen Platz.“ Bei drei Heimen steht sie seit zehn Jahren auf der Warteliste. Sie hätte sich anmelden müssen, als sie 40 wurde, hat man ihr gesagt.
Heute sind drei Erzieherinnen krankgeschrieben, die Adult-Kids müssen aushelfen, Thorben ist mit Füttern und Windelwechseln dran. „Ein Löffelchen für Mama“, sagt er und schiebt Waltraud Schmidt einen Löffel mit Milchreis in den Mund. Danach werden Windeln gewechselt.
Mit Kosmetik-Influencerin Silvia hat Thorben sich mittlerweile wieder vertragen. Die darf ihn nachher mit Wasserfarben schminken. „Na gut“, sagt er, „aber nur wenn wir in der Mittagspause Doktor spielen!“ Silvia nickt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Deutungskampf nach Magdeburg
„Es wird versucht, das komplett zu leugnen“
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Gedenken an den Magdeburger Anschlag
Trauer und Anspannung
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml