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Die WahrheitDie Piss-Parabel

Warum es einfach nicht vorangeht mit dem Klimaschutz, der Verkehrswende oder dem Kampf gegen Rassismus, das steht hier anschaulich im Folgenden.

P apa, erzähl uns eine Geschichte!“ – „Na gut, liebe Kinder“, hebe ich an, „ihr habt doch sicher den Aushang im Flur gesehen: ‚Pissen verboten!!!‘ und darunter: ‚Pissing forbidden!!!‘.

Dazu im Stil eines Verkehrsverbotsschildes ein pullernder Mann, rot durchgestrichen. Als ich gestern davor stand, kam der alte Hoppe aus dem Zweiten dazu. Er starrte darauf und grummelte: ‚Nichts darf man mehr in diesem Land. Das kommt dabei raus, wenn die Grüninnen regieren. Erst nehmen sie uns die Parkplätze weg für ihre Lastenräder, dann die Currywurst, und jetzt verbieten sie uns auch noch das Pissen!‘ Die Nachbarin aus dem Seitenflügel trat hinzu: ‚Das waren doch garantiert Zugereiste. Wahrscheinlich Schwaben! Meine Güte, hier ist Berlin! Erst beschweren sie sich über den Müll auf der Straße, dann, wenn es nachts etwas lauter ist, und jetzt soll man nicht mal mehr in den Hausflur pissen! Voll die Gentrifizierung!‘ – ‚Ausländerfeindlich auch!‘, beschwerte sich die Krankenschwester aus dem Vorderhaus. Allmählich hatte sich ein Auflauf um den Aushang gebildet.

‚Das Englische ist ja bloß die schlecht verbrämte Unterstellung, dass Menschen aus anderen Kulturkreisen in den Hausflur pissen.‘ – ‚Ach was!‘, pöbelte Kasulke aus dem Erdgeschoss, ‚man ist doch fremd im eigenen Land allmählich. Erst kommen die Türken und machen alles voll mit ihren Üs, und jetzt ist alles englisch. In der Kneipe gegenüber musste dein Bier auf Englisch bestellen. Und was heißt Bier? IPA! Und jetzt darf man die Plörre nicht mal mehr hier hinpissen!‘ Die Jugendliche aus dem Dachgeschoss beklagte, dass das Schild voll sexistisch sei, weil nur ein pinkelnder Mann abgebildet ist. Dabei könnten ja auch Frauen dahin pinkeln. ‚Oder Non-Binäre!‘, gab ihr Bruder zu bedenken, ‚so eine exkludierende Bildsprache!‘

Leerzeichen gehört da nicht hin

Die Stimmung wurde zunehmend gereizt. ‚Leute‘, rief ich, ‚habt ihr nicht einen Aspekt übersehen?‘ Stille. Die Nachbarn schauten sich ratlos um. ‚Ist euch nichts aufgefallen?‘, fragte ich weiter. Sie schnupperten fahrig in den stechenden Uringeruch. Dann sagte Hoppe: ‚Nö, was denn?‘ Ich zeigte empört auf den Zettel: ‚Da ist immer ein Leerzeichen vor den drei Ausrufezeichen! Pissen Verboten – Leerzeichen – Ausrufezeichen. Da darf aber laut Satzregeln im Duden kein Leerzeichen hin! Das Ausrufezeichen wird direkt ohne Leerzeichen oder Freiraum an das letzte Wort des Ausrufesatzes angeschlossen! Das ist doch nicht so schwer!‘ – ‚Stimmt!‘, riefen die Nachbarn, ‚jetzt reicht es aber wirklich!‘ Dann haben wir den Zettel von der Tür gerissen und alle zusammen in die Ecke gepinkelt. Das tat gut.“

So endete meine kleine Geschichte. Die Kinder fragten ratlos: „Was sollte das denn?“ –„Das, liebe Kinder“, erklärte ich, „ist der Grund, warum es nicht vorangeht mit dem Klimaschutz, der Verkehrswende oder dem Kampf gegen Rassismus. Und jetzt schlaft schön!“

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Heiko Werning
Autor
Heiko Werning ist Reptilienforscher aus Berufung, Froschbeschützer aus Notwendigkeit, Schriftsteller aus Gründen und Liedermacher aus Leidenschaft. Er studierte Technischen Umweltschutz und Geographie an der TU Berlin. Er tritt sonntags bei der Berliner „Reformbühne Heim & Welt“ und donnerstags bei den Weddinger „Brauseboys“ auf und schreibt regelmäßig für Taz und Titanic. Letzte Buchveröffentlichung: „Vom Wedding verweht“ (Edition Tiamat).
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1 Kommentar

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  • Nun liebe Kinder,



    gebt fein Acht,



    er hat was Schlaues



    mitgebracht!