Die Wahrheit: Der altböse Feind
Berlin-Wahlgewinner CDU: 100 Tage nach der Wahlwiederholung eine vorausschauende Abrechnung mit den Wiedergängern von Diepgen und Co.
Jetzt, da die Wiederholung der Berliner Abgeordnetenhauswahl am 12. Februar 2023 exakt 100 Tage zurückliegt und der erste Schock sich gelegt hat, macht sich ein unangenehmes und doch irgendwie urvertrautes Gefühl in Hirn, Magen und Gedärm breit. Es ist ein bisschen, als ob man als Erwachsener noch einmal den beklemmenden Geruch der ehemaligen Schulflure atmet. Denn nach langer Zeit ist es wieder so weit: Es gibt eine echte CDU-Regierung in Berlin, ein Retro-Erlebnis, Demokratie light, alles wie früher, alles auf null, ach was, alles auf Schwarz.
Man ist Schwarz-Rot in Berlin gar nicht mehr gewohnt – die Jungen wissen überhaupt nicht mehr, wie das war und was ihnen blüht. Klar, hat man immer geschimpft, weil auch unter Rot-Rot-Grün (R2G) nichts klappte, zu wenig zum Besseren geschah. Man hatte sich halt auch dran gewöhnt, dass die Landesfürsten im Fernsehen nicht ständig ätzten, schrien oder drohten. Und dass die Politiker zwar nichts auf die Kette bekamen, aber dass sie es nicht aktiv böse meinten, sondern einfach nur nicht besser konnten.
Vorbei, denn nun meinen sie es böse; jetzt kommt die Peitsche wieder für alle, die nicht eh schon oben auf der Suppe schwimmen. Überforderte Behörden, Sanierungsstau, Bildungsmangel, Pflegenotstand, Mietenwahsninn? Gab es vorher auch schon, doch nun wird man uns jeden Tag sagen, warum das alles nicht nur so sein muss, sondern auch absolut super ist.
Aber irgendwie ist es auch spannend. Gerade die destruktiven Anteile meiner Seele freuen sich fast auf den längst vergessen geglaubten, altbösen Feind. Es ist eine eigenartige Angstlust, eine Art masochistischer Sucht nach Tritten von oben gegen unten. Unser Schmerzgedächtnis erinnert sich noch dunkel an Diepgen und Co, unsere Nase an den altvertrauten Ludergeruch der Wilmersdoligarchie. Die Neugier entfacht einen selbstzerstörerischen Sog.
Mittelalter ohne Zahnarzt
So wie man sich ja auch manchmal fragt, wie das Leben im Mittelalter wohl war, ohne Betäubung beim Zahnarzt, überhaupt ohne Zahnarzt; wer ein Brot stahl, wurde gehängt, und wer vor der heranbretternden Kutsche des Landvogts nicht beiseite sprang, wurde straflos überrollt. Nun werden wir genau das wieder erleben. Die Radwege werden aufgerissen, Abschiebungen im Minutentakt vollzogen, Volksentscheide gekippt, Krieg den Hütten.
Die goldene Epoche der Berliner CDU lebt wieder auf, und mit ihr das gute alte Westberlin. Was war das doch für eine Volksnähe. In jedem höherpreisigen Bordell der Stadt konnten die Berliner jederzeit ihre Abgeordneten aufsuchen, die dort im Bademantel oder nackt, im Whirlpool oder an der Bar, beflissen den durchaus unbequemen Fragen ihrer Wähler auswichen. Sie haben praktisch dort gewohnt, die Huren brachten ihnen morgens Tee und abends „Mampe Halb + Halb“. Das alles zahlten Baulöwen, Entsorger oder andere Profiteure der Landesauftragsvergabe. Für Ottilie Normalbürgerin waren dafür immerhin die Plastiktüten im Einkaufsladen gratis.
Alles war bestens geregelt und nicht so chaotisch wie unter R2G. „Was Unrecht ist, muss Unrecht bleiben“ – es sind eherne Grundsätze wie dieser, die eine Politik berechenbar und für das Volk transparent machen.
Nostalgie ohne Reue
Apropos Unrecht. Dass die Innensenatorin aus der SPD kommt, ist für uns Nostalgiker eine schwere Enttäuschung. Was für eine verschenkte Chance. In einem schwarzen Berlin muss der Innensenator selbstverständlich von der CDU sein. Sonst ist es nur der halbe Spaß. Zu Westberliner Zeiten knurrte, bellte und geiferte auf diesem Posten verlässlich der Kettenhund des Regierenden. Der Bad Cop, der im Grunde nur dazu diente, den Rest der Bagage in einem vergleichsweise zivilisierten und demokratienahen Licht erscheinen zu lassen. Gegen Sauron wirkt Saruman wie ein Kaninchenbaby – genau das ist die Methode.
Nach heutigen Maßstäben waren diese Hardliner durch die Bank protofaschistische Schreibtischschläger, aggressive, rechtsferne und nassforsche Handlanger der Willkür. War ein besetztes Haus geräumt worden, traten sie davor auf wie Putin in Mariupol. Es fehlte nur noch, dass der Großwildjäger für die Presse den Fuß auf einen langhaarigen Zausel stellte, der vor ihm auf dem Boden lag.
Wie es bei Christdemokraten damals überhaupt gang und gäbe war, verkündete dieser Büttel eines antiquierten Ordnungsgedankens von morgens bis abends ein Zeug, bei dem es heute stets floskelhaft hieße, „Die AfD verschiebt mal wieder die Grenzen des Sagbaren“. Das tun sie zwar, aber nur dahin, wo sie in den achtziger Jahren eh schon mal waren. Das vergisst man ja alles so leicht.
Trotz aller negativen Erfahrungen bin ich wirklich darauf gespannt, was uns nun erwartet. Das wird sicher alles sehr schön werden, wenngleich auf eine äußerst schlimme Art.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen