Die Wahrheit: Im Passgang nach Paris
Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (168): Giraffen sind zwar kaum zu übersehen, bleiben aber dennoch rätselhaft.
Die erste Giraffe in Europa, ein Geschenk des Sultans von Ägypten 1480 für Lorenzo de Medici in Florenz, war eine Sensation, aber sie lebte nicht lange. Die zweite gelangte als Geschenk eines späteren Sultans für den französischen König nach Paris. Sie hieß Zarafa („die Liebliche“ auf Arabisch, woraus der Artname „Giraffe“ wurde). Sie war im Sudan gefangen worden und mehr als zwei Jahre unterwegs, bevor sie 1827 europäischen Boden betrat, von Alexandria aus hatte man sie nach Marseille verschifft. Dazu wurde „in das Oberdeck des Schiffes ein großes Loch gesägt, durch das die Giraffe ihren Hals strecken konnte“. Zarafa lebte mit ihrem sudanesischen Pfleger Atir bis 1845 im „Jardin du Roi“ und kam dann ausgestopft ins Museum.
In seinem Buch „Als die Giraffe noch Liebhaber hatte“ (2017) erzählt der Mediziner Michael Lichtwarck-Aschoff, wie der Zoologe Étienne Geoffroy Saint-Hilaire Zarafa in Marseille beim Präfekten abholte, wo alle begeistert von der „schönen Afrikanerin“ waren: Man veranstaltete „soirées de girafe“, die Damen frisierten ihr Haar „à la girafe“ und die Herren trugen Westen mit dem Muster von Zarafas Fell.
Für Hilaire war es Liebe auf den ersten Blick. Er ließ gegen den Regen einen Ölumhang für sie schneidern und weiche Lederschuhe anfertigen, um ihre empfindlichen Hufe auf dem langen Marsch nach Paris zu schonen. Alle Bewohner der Dörfer und Städte standen jubelnd und weinend am Straßenrand, während Zarafa kopfnickend mit leicht schwankendem Passgang arglos einer Herde Kühe folgte, die vor ihr hergetrieben wurde. Gelegentlich zupfte sie unterwegs mit ihrer langen blauen Zunge Blätter aus den Wipfeln der Alleebäume. Ganz Frankreich erfasste eine „Giraffomanie“. Hilaire, der sie am Zügel führte, wurde „Comte de la Girafe“ genannt.
Hilaire arbeitete mit dem Zoologen Jean-Baptiste de Lamarck zusammen, der 1829 gestorben war. Beide gingen revolutionär gestimmt von einer Entwicklung der Arten aus, wobei Lamarck davon überzeugt war, dass sich erworbene Eigenschaften vererben. Als Beispiel erwähnte er den langen Hals der Giraffe: Das Tier streckte sich immer höher nach den Blättern der Akazienbäume in seiner Heimat und konnte so in der Trockenzeit trotz großer Nahrungskonkurrenz unter den Pflanzenfressern überleben, was dazu führte, dass seine Nachkommen mit immer längeren Hälsen geboren wurden.
Vererbung von Eigenschaften
Charles Darwin, der erst 1882 starb, stützte sich zwar auf Lamarck, aber die Vererbung von Eigenschaften fand für ihn in den Geschlechtszellen statt, was dann im Neodarwinismus mit der zufälligen Mutation von Genen und der anschließenden Selektion auf größere „Fitness“ hin erklärt wurde und wird. Damit setzte sich die reaktionäre Evolutionstheorie von Darwin gegen die revolutionäre von Lamarck durch, die erst wieder mit der Arbeiterbewegung und der russischen Revolution – als „Lamarxismus“ – Anhänger fand.
Die Greifswalder Herausgeberin der Reihe „Naturkunden“, Judith Schalansky, veröffentlichte 2011 einen antidarwinistischen „Bildungsroman“ mit dem Titel „Der Hals der Giraffe“. Ihre Hauptfigur ist eine Biologielehrerin, die erst in der DDR unterrichtete und dann im neuen System. Ihre Schule – das „Charles-Darwin-Gymnasium“ – soll jedoch „abgewickelt“ werden. Sie war von den Schulinspektoren aus dem Westen zwar positiv evaluiert worden, aber man hatte ihr nahegelegt, den Unterricht „wirklichkeitsnäher“ zu gestalten.
„Was für ein Schwachsinn! Wirklichkeitsnah war die Biologie doch sowieso. Eine Beobachtungswissenschaft, die alle Sinne ansprach. Aber das war mal wieder typisch: Erst das Tieretöten für die Sezierstunde verbieten und dann mehr Wirklichkeitsnähe fordern!“ Der Biologielehrerin sind so gut wie alle Lebensäußerungen genetisch bedingt – und das nicht erst seitdem der Westen über sie gekommen ist, denn der oberste Biologe der DDR, Hans Stubbe, war zuvor Nazi-Genetiker gewesen.
Der junge Biologe Léo Grasset neigt wie Schalansky zum Lamarckismus, das ist in Frankreich immer noch Ehrensache. In seinem Buch „Giraffentheater“ (2016) schreibt er, dass die Mehrheit der Biologen heute davon ausgeht, dass die Giraffenkühe ihren langen Hals meist „waagerecht“ halten, sie favorisieren deswegen eine andere Erklärung: „Halten Sie sich fest: Der Hals soll eigentlich eine Waffe sein, die in den Kämpfen zwischen den Männchen benutzt wird.“ Genau das sei der Grund für die Länge und Dicke der Giraffenhälse: „Die Männchen mit dem größten Hals pflanzen sich am häufigsten fort, was die Entwicklung dieses Organs buchstäblich in die Höhe zieht.“
Der Tierpfleger Rudolf Riedtmann schreibt in seinem Buch „Glück durch Tiere“ (1979) über „seine“ von ihm geliebte zutrauliche Giraffe „Arusha“, die 1935 in den Zürcher Zoo kam und 1946 nach einem „unglücklichen Sturz“ starb, dass die „Hochgeborene“ ihn morgens liegend empfing, „was nur wenigen Sterblichen zuteil geworden ist“.
Im Außengelände des Opel-Zoos im Taunus sind die Giraffen „eigentlich nicht zu übersehen“, berichtete Rebecca Hahn in der FAZ 2021, aber wegen des aufgeweichten Bodens sind sie nicht draußen: „Die Giraffen-Damen Katharina und Maud bleiben mit ihrem Nachwuchs, den Jungbullen Kiano und Madiba, in ihrer Halle. Die Pfleger wollen nicht riskieren, dass sich eines der Tiere auf der rutschigen Wiese ein Bein bricht. Derart behütet leben in europäischen Zoos insgesamt etwa 900 Giraffen.“
Abschuss ganzer Herden
Nach Schätzungen der Tierhändler starb die Hälfte aller afrikanischen Tiere auf dem Weg nach Europa. Zunächst hatten die Tierfänger aber bereits ganze Giraffenherden erschossen, um die Jungen zu fangen. Der Giraffenforscher David Pratt fand in einem kenianischen Schutzgebiet heraus, dass von fünf Giraffenbabys vier im ersten Lebensmonat Raubtieren zum Opfer fallen.
In seinem Roman „Schlehweins Giraffe“ (2014) schildert der Dramaturg Bernd Schirmer, wie sein Icherzähler, ein arbeitsloser Germanist, eine Giraffe aus einem DDR-Zoo, der 1991 „abgewickelt“ wurde, in seine hohe Wohnung einquartiert, wo er ihr sein Wendeleid klagt und über das „Leben seiner Giraffe nachdenkt“. Er überlegt, mit dem Tier zum Zirkus zu gehen, „um etwas Geld zu verdienen“.
Auch in den Zirkussen gab es immer wieder Giraffen zu bestaunen, neuerdings wird ihnen jedoch in den meisten europäischen Ländern die Haltung und Dressur von Wildtieren verboten. Nun erinnern die Zirkushistoriker an sie: Die ersten Giraffen kamen ab 1843 in die Manegen. Als einer der ersten zeigte Zirkus Renz in einer „exotischen Pantomime ‚Die Königin von Abessynien‘“, zwei Giraffen, die den Triumphwagen der Herrscherin zogen.
Der Münchner Zirkus Krone führte noch während des Ersten Weltkriegs seine Giraffe „Marguerite“ vor. Im Zweiten Weltkrieg wurden seine Giraffen nach Oberbayern evakuiert. 1979 zeigte Krone den Araberhengst Ghazi, wie er durch die Beine von Giraffenbulle Baluku läuft. 2018 kam der Circus Voyage mit Giraffen nach Nürnberg, dagegen demonstrierten dann schließlich Tierschützer.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Pelicot-Prozess und Rape Culture
Der Vergewaltiger sind wir
Rechtsextreme Demo in Friedrichshain
Antifa, da geht noch was
Trendvokabel 2024
Gelebte Demutkratie
Studie Paritätischer Wohlfahrtsverband
Wohnst du noch oder verarmst du schon?
Bundestagswahlkampf der Berliner Grünen
Vorwürfe gegen Parlamentarier
Mord an UnitedHealthcare-CEO
Gewalt erzeugt Gewalt