Die Wahrheit: Frau Unbehauens Klugkneipe
Wahre Ausflugslokale: Ein hohes Prositlied auf die Gold-Ochsenbrauerei in Spielbach, dem Paradies im baden-württembergischen Jammertal.
Als Mensch mit eins neunzig musst du dir vorher den Kopf absägen, um durch die Tür zu kommen, und eine Stufe sollte man später auch zu bewältigen vermögen, ohne sich den Knöchel zu zerhauen.
Der sanfte Geruch von Maische erfüllt den Flur. Es gibt keine Speisekarte und drei Gerichte: Rehgulasch, Schnitzel und Brotzeit. Genau eine Sorte Bier wird offeriert, das Spielbacher Spezial Hell, das man als Erinnerung ans Paradies in der Bügelverschlussflasche mitnehmen kann. Verfertigt hat es Braumeister Gott.
Die Landschaft im baden-württembergischen Hohenlohischen ist infolge einer brachialen Flurbereinigung vollständig erledigt – kein Rain, kein Strauch, Bäume unerwünscht –, die grundkaputten Straßen wurden aus Rumänien importiert. Die übergeordnete Gemeinde heißt selbstverständlich Schrozberg, und in östlicher Richtung dräut der Limbus der touristischen Komplettbarbarei, Rothenburg ob der Tauber.
„Alle Lumpen sind gesellig“, schreibt Schopenhauer. Lump Ludwig hatte am Stammtisch in die Runde gepfeffert, die Gold-Ochsenbrauerei in Spielbach sei „die beste Wirtschaft im Umkreis von hundert Kilometern“. „Da fahren wir hin!“, hatte Lump Lerd sofort verfügt. Und Lump Hans, der Gefängnispfarrer, hatte stante pede „vollkommen begeistert“ (Dostojewski) repliziert: „Aber so was von! Und zwar hurtig!“
Monumentale Linde
Spielbach zählt grob überschlagen neun Einwohner. Das Fachwerkhaus hinter einer monumentalen Linde beheizt ein herrlicher dunkelgrüner Bollerkachelofen, das Rohr läuft quer über den hinteren Bereich des Tresens. Man wird dieses Gefühl von „habeckaverser“ (S. Lobo) Surround-Wärme demnächst im Gemüt speichern müssen.
Alte Holzstühle und -tische, schlichte Decken, an den getäfelten Wänden gusseiserne Kleiderhaken und patinierte Stiche. Ein antiker Läufer in der Mitte des Dielenbodens. „Zeit? Kann mich mal!“, sagt der Raum.
Sie sprechen hier fränkisch mit schwäbischem Einschlag. Ludwig, ein entschieden humanistischer Sozialpädagoge, begrüßt einen Mann mit Soldatenmütze. Denn der ist einfach: freundlich.
Um einen herum die umfassendste Essfreudigkeit. Kein einziger Stuhl unbesetzt, keine Musik, kein Mobilfunkempfang. Die Luis, das Ortsoriginal, sagt der Ludwig, schneide gerade Bäume hinterm kopfsteingepflasterten Hof, hinter der prächtigen Scheune und den Stallungen.
„Wecha ’m G’schmarri“ seien wir da, stellt Metzgermeister Lerd klar – und „wecha Zeich und Woar“. Ein etwa fünfundachtzigjähriges und offenbar unverwüstliches Weiblein bringt stählerne Riesenschüsseln voller Blaukraut, dazu Ragout, Bratkartoffeln, eine Platte gefährlich duftender Wurst – Zeich und Woar halt.
Weißer Erlaubnispfeil
Das Kartenspiel, „der deklarierte Bankrott an allen Gedanken“ (Schopenhauer), ist gestattet – das sicherste Indiz für ein funktionierendes Gasthaus. Um die Geselligkeit nicht zu übertreiben, darf die hölzerne Treppe hinauf in den ersten Stock, zur Toilette, „nur einzeln betreten werden“, informieren ein Zettel und ein Piktogramm. Auf Letzterem allerdings weist ein weißer Erlaubnispfeil nach unten und ein roter Verbotspfeil nach oben, was einen mit der unlösbaren Frage „konfrontiert“ (S. Lobo), wie man als gesetzestreuer Bürger jemals zum Pissoir gelangen soll.
Die Willibecher prangen goldrein vor uns, das Gespräch erklimmt rasch „höchstes Niveau“ (Polt: „Der Weber Max“). Ludwig regt die Gründung einer Luftschlangenaufrollergewerkschaft an. Hans murmelt zwischen zwei Kellen Bratkartoffeln: „Man könnt’ sich dumm und dämlich fressen.“ Lerd rammt sozialrevolutionäre Thesen in die Luft („Ma’ muss die Ober’n beknapsen!“), sinniert, zum Nachtisch eine Brotzeitplatte zu nehmen, und gesteht als Fachmann für Fleischwolf und Wurstwürzung: „Pute? Des hat ja kaan Ding. Deswegen ess ich’s auch net. Giggerli ess i a net“ – sondern eben „nach Vorschrift und Zeich“ ausschließlich Schwein, Rind, Wild, Fisch, Austern und Kaviar.
Eine Sache indes umtreibt den König der groben fränkischen Bratwurst: „Was machst du, wenn die Welt vegan wird?“ Pazifist Ludwig weiß Rat: „Dann fress’ ich die Veganer.“ Und Hans, unser Mann „vom Verein“ (From Dusk Till Dawn), hat ohnehin den Durchblick: „Der Homo sapiens war sowieso eine totale Fehlentscheidung.“
Eintritt frei beim Abend der Wissenschaft
Bezahlt wird in einer Art Séparée, im „Kabinettle“. Da sitzt Frau Unbehauen, die würdevolle Seniorwirtin, an einem kleinen Tisch, stoischer als Marc Aurel und zugleich erfahrungsdurstig und redelustig. Im Nu landen wir plaudernd bei Ontologie und zeitgenössischer Anthropologie, und die Patin, die Francis Ford Coppola nicht schöner in Szene setzen könnte, bringt, bevor sie siebzig Euro in ihre rotlackierte Schatulle bettet, das gesamte Unheil der verfluchten Gegenwart auf den Punkt: „Man ist ja kein Mensch mehr. Man ist fremdbestimmt.“
In der Gold-Ochsenbrauerei finden übrigens, um die Unglaublichkeit dieses unanfechtbaren, ewiglichen Ortes vollends zu bekräftigen, „Abende der Wissenschaft“ statt (Eintritt frei!), zu Themen wie „Wie aus NICHTS (Vakuum) ALLES wurde – Von Torricelli über Pascal zu Heisenberg“, „Das elegante Universum – Eine Einführung in die String-Theorie“ und „Die Mathematik der Fraktale beschreibt die Natur“.
Mir hätte eine Einführung in die einfache Gravitationstheorie genügt, um an der Einzelstufe im Hof nicht ins Leere zu treten und einen „Getränkeunfall“ (Lerd) zu vermeiden, der mir hernach die Einnahme von zweihundert Ibuprofen und das sechswöchige Tragen einer „Rocket Sock“ (Knochenchirurg Enz) bescherte.
Aber ich behaupte: Schmerz der Erkenntnis.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestellerautor will in den Bundestag
Nukleare Drohungen
Angst ist ein lautes Gefühl
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland