Die Wahrheit: Mao und Frau Pieper
In der legendären Berliner Absturzkneipe „Ruine“ war das Spülwasser ranzig und niemand der Gäste bei Trost. Aber eine alte Dame fegte den ganzen Tag.
I m Hausflur sprach uns die Nachbarin aus dem Erdgeschoss an. Heute Morgen habe sie die Jalousien hochgezogen, und da sei ihr der Schreck in die Glieder gefahren. Im Hof, am Strauch vor ihrem Fenster, hätten bunte Ostereier gehangen. Darüber habe sie sich sehr erschreckt, weil es so schön gewesen sei.
Tatsächlich hatten wir, wie üblich vor Ostern, den Garten etwas dekoriert. Allerdings nicht mit der Absicht, jemanden zu erschrecken. Besonders nicht die alte Dame, die einst aus dem Bayerischen nach Berlin gezogen war, um nun jeden Tag, ob Winter oder Sommer, Sonne oder Sturm, Corona oder Krieg, akkurat den Hof zu fegen.
Eine alte Frau mit Besen? Da gab es doch Frau Pieper, die früher den Winterfeldtplatz in Schöneberg vom Dreck befreite. Nicht nur zweimal in der Woche nach dem großen Markt, jeden Tag fegte Frau Pieper den ganzen Platz bis in den Sonnenuntergang hinein.
Hieß sie nicht Erna? Erna Pieper? Und war die graue Hauswartsfrau aus der „Ruine“ am Winterfeldtplatz? Im Zweiten Weltkrieg war das Vorderhaus weggesprengt worden. Im Hinterhaus lebten Punks und Übriggebliebene. Und vorn im Restbau gab es die legendäre Absturzkneipe Ruine, in der Frau Pieper einen festen Platz am Tresen hatte, wenn sie nicht fegte oder im Winter Schnee schippte.
Und dann war da noch Mao. Niemand wusste, warum der alte Mann so hieß. Er war selbsternannter Gläserabräumer und hoffte auf Umsonstbier. Normalerweise hätte kein Gast, der bei Trost war, in der „Schultheiss-Gaststätte“ Bier aus den Gläsern getrunken, die nur kurz in das ranzige Spülwasser getunkt wurden. Aber bei Trost war niemand in der Ruine. Wenn Mao sich ein Glas schnappte, rief er jedes Mal: „Hamwer!“ Bis eines Tages ein Gast sein leeres Glas mit Sekundenkleber am Tisch festpappte. Mao fasste es nicht: „Jiebtet doch nich!“
Einmal wollten ein Freund und ich nach einer nächtlichen Zechtour auf ein letztes Frisches in die Ruine. Am Tresen hing nur ein schwer Angeschrägter. Noch bevor wir etwas sagen konnten, teilte er auch schon mit einer Faust aus. Da hatte ich wohl den falschen Kopf auf dem Hals. Mehr verblüfft als verletzt standen wir wie erstarrt da, und bevor wir ihm Saures geben konnten, wurden wir vom Wirt aus der Kneipe gedrängt. Der Spuk hatte höchstens zehn Sekunden gedauert.
Heftiger als die Ruine war nur noch im Haus gegenüber das Stonz. Die erste Punkkneipe Berlins, gegründet von Hausbesetzern. Im Stonz fiel, als eine Frau die Toilette suchte, der legendäre Satz: „Klo is nich, musste in die Ruine.“ Und wer den Abort in der Ruine kannte, wusste, wer die Ekelweltmeisterschaften von Westberlin gewonnen hatte.
Und gegen all diese Unordnung zückte Frau Pieper ihren Besen. Jeden Tag. Auf dem Winterfeldtplatz. Im Kalten Krieg von Westberlin. Wo Dreck und Schreck so nah beieinanderlagen. Wie jetzt bei unserer Nachbarin. Auf unserem Hof. Im neuen Kalten Krieg. Gegen den wieder eine alte Dame anfegte.
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