Die Wahrheit: Im Gemüsegarten des Verstands
Abrechnung mit der Dummheit: „Nebenmänner“ von April Schrottwange. Der Roman aus dem Flachland. Eine Rezension.
Deutschland in einer gar nicht mal so fernen Zukunft, circa 2023. Man darf nichts mehr sagen. Wiener Würstchen sind verboten. Die Menschen sind gleichgeschaltet. Wer aufmuckt, wird auf dem Marktplatz öffentlich gecancelt. Ein monströses Zwitterwesen namens Habock regiert aus einem Labyrinth aus Sprachregelungs- und Verhaltensvorschriften heraus. Um das Ungeheuer daran zu hindern, den Irrgarten zu verlassen und seinen Heißhunger an der unschuldigen Bevölkerung zu stillen, müssen ihm alle vier Jahre dreizehn jungfräuliche rechte Kabarettisten geopfert werden.
Das ist der dystopische Hintergrund, vor dem der neue Bestseller „Nebenmänner“ (Nachdenkverlag) von April Schrottwange spielt. Eingewoben ist diese „Abrechnung mit der Dummheit“ (Untertitel) in eine offene Whatsapp der Autorin an ihr „besseres Ich“. Der treuen Stammleserschaft dürfte die ironische Reminiszenz an die Person der Dichterin ein wissendes Schmunzeln entlocken: Denn für Schrottwange existiert kein besseres Ich – ihr bestes Ich ist immer sie selbst.
Weiter gibt es jedoch nichts zu lachen. Die Streitthemen des Romans sind quer durch den Gemüsegarten aktueller Schoten, Gurken und Knallerbsen angesiedelt. Grob umreißen könnte man sie mit „Meinungen nerviger Arschlöcher, die die Dinge anders sehen als die Autorin und das auch noch bei jeder Gelegenheit laut in die Gegend tröten“.
Auch der Ort der Handlung dürfte autobiografisch beeinflusst sein. Die aus dem rheinischen Schlickendrath stammende Schrottwange lebt seit Jahren im brandenburgischen Sharenow (Westprignitz/Ruppermark), und ein Großteil des Geschehens ist in ihrer Wahlheimat angesiedelt. Den atmosphärischen Gegenpol zur ländlichen Idylle bildet die fiktive Stadt „Mordor“, die grob den Metropolen Berlin, Lagos und Baltimore nachempfunden ist. Dort kämpfen zugezogene Helikoptereltern mit nonbinären Drogendealern, Speciality Coffee Roasters und notorisch mordlustigen Muslimen um jeden Zentimeter Deutungshoheit.
Realitätsferne Ponyhofbetreiberin
Kein Wunder, dass sich da so manche nach Veränderung sehnt. Die Hauptfigur Luisa, eine vollkommen verblendete, mit Händen und Füßen Virtues signallende, dem medialen Meinungsmainstream hörige, de facto ahnungslose, dem Habock huldigende, lebensfremde und realitätsferne Ponyhofbetreiberin, zieht aufs Land. In ihrem urbanen Dünkel glaubt sie, Land und Leute nach ihrem Belieben umgestalten zu können.
Dann aber begegnet sie Otze, Sturmwarnführer bei der freiwilligen Feuerwehr in Freenow/Mark. Der herzensgute Neonazi rettet eine siebzehnköpfige Entenfamilie vor der Zwangsimpfung durch eine woke Influencer-WG aus Mordor, die ins benachbarte Drivenow gezogen ist und dort alles durcheinanderbringt: Tofu, Yoga, Demokratie, Wissenschaft, Völkerrecht. Anschließend hilft Otze den Enten auch noch sicher „über den Jordan“, wie die beide Orte verbindende Landstraße L88 im unvergleichlich humorvollen Jargon der Märker genannt wird. Luisa ist sofort fasziniert – eine Lobotomie ist nichts im Vergleich zu diesem Erweckungsmoment.
Die Städter in „Nebenmänner“ sind klein, dunkelhaarig und irgendwie unschön verwachsen. Zahlreiche Passagen thematisieren auch deren Geruch, der mal als „kotig-säuerlich“, dann wieder als „stechend“ oder „stinktierartig“ beschrieben wird. Die Einheimischen haben blitzblaue Augen, einen aufrechten Gang und strahlen Ehrlichkeit, Erdigkeit, eine Reinheit der Seele aus, die sie wie die herrlichen Geschöpfe eines Wald-, Feld- und Wiesengottes erscheinen lässt. Mit derlei subtil differenzierten Zuschreibungen gelingen Schrottwange famose Figurenzeichnungen. Eine literarische Kontinenz dieses Kalibers dürfte in der Geschichte des Alphabetismus nahezu einmalig sein.
Verhaftete Warmduscher
Endlich besinnt sich Luisa ihrer Wurzeln (auch ihr Urgroßvater war ein begeisterter Nazi) und beschließt, Otze und seine Widerstandsgruppe „Walhalla Havelland“ zu unterstützen. Das ist auch bitter nötig, denn die vom Habock aus dem Labyrinth heraus gesteuerte Ökovirogenderpanzerkratur lässt alle Oppositionellen verhaften: Maskenverweigerer, Warmduscher, Fleischesser, Autobesitzer, Kriegsgegner, Normale. Die Gefangenen werden in eine Indoor-Soccer-Halle in Spandow, einer Vorstadt von Mordor gebracht. Unter hohen Verlusten (besoffen gegen den Baum, Navi funktioniert nicht) befreien die Walhalla-Aktivisten die politischen Häftlinge und bringen sie in Sicherheit. Mit einem dramaturgischen Instinkt, der seinesgleichen vergeblich sucht, zitiert April Schrottwange hier auf einmal den berühmten Satz der großen Rosa Marzipan: „Die Wahrheit ist immer die Wahrheit der Andersdenkenden.“
Wer an dieser Stelle nicht weint, hat kein Herz, und wer an dieser Stelle nicht aufwacht, keinen Verstand. Denn nicht nur Freiheit, Vernunft und rechtes Maß sind in Gefahr, sondern – schlimmer noch! – auch die Literatur selbst droht von einem abgeschmackten Zeitgeist füsiliert zu werden. Das macht uns das Buch unmissverständlich klar.
Denn Schriftsteller, die noch bis vor Kurzem zu recht als höchste Ausformung der menschlichen Intelligenz und Experten für absolut alles – Gefäßchirurgie, Geheimdiplomatie, Basketball – respektiert wurden, werden auf einmal in ihrer charismatischen Kompetenz angezweifelt. Schrottwange beschreibt die zwangsläufigen Folgen dieser brandgefährlichen Entwicklung: Hunde wollen plötzlich Katzen sein; alle scheißen einfach auf die Straße; auf sämtlichen Hausbriefkästen kleben Hunderte unaussprechliche Namen; niemand ist mehr irgendwo zu Hause, das Los der Deutschen ist das Heimatlos; der Mensch ist des Menschen Wolf und der Wolf des Wolfes Mensch.
Als Wurzel all dieser unguten Entwicklungen wird dabei die Wissenschaftsgläubigkeit degenerierter Stadtbewohner ausgemacht, die sich, so Otze, im Angesicht der brennenden Influencer-WG „gehackt legen sollen“.
Danach passiert noch jede Menge mehr, doch ohne allzu genau ins Detail zu gehen, wollen wir an dieser Stelle wenigstens so viel verraten: Das Ende ist selbstverständlich ganz im Sinne des gesunden Menschenverstands.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Geschasste UN-Sonderberaterin
Sie weigerte sich, Israel „Genozid“ vorzuwerfen
Prognose zu Zielen für Verkehrswende
2030 werden vier Millionen E-Autos fehlen
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Mord an UnitedHealthcare-CEO in New York
Mörder-Model Mangione
Partei stellt Wahlprogramm vor
Linke will Lebenshaltungskosten für viele senken
Vertrauensfrage von Scholz
Der AfD ist nicht zu trauen