Die Wahrheit: Die letzte Mücke des Jahres
Die Klimakrise bietet Killertieren jetzt ganzjährig ein Betätigungsfeld. Ein erschütternder Schmerzreport.
Sie ist die letzte Mücke in der Wohnung, und die letzte im Dezember. Es ist offenbar immer nur diese eine, die zwischen Wohn- und Schlafzimmer pendelt, ebenso wie ich. Am Abend umschwirrt sie mich scheu, wenn ich auf dem Sofa vor dem Fernseher sitze. Der Begriff „Kulturfolger“ scheint eigens für sie erfunden zu sein. Danach folgt sie mir, wenn ich zu Bett gehe, und summt dort um meinen Kopf herum.
Ja, sie summt leider auch noch. Was für ein Pech. Schließlich gibt es auch Mücken, die nicht summen. Hätte die einzige überlebende Mücke des Hauses nicht wenigstens eine von denen sein können, die ihre verdammte Schnauze halten? Lange Zeit habe ich ja geglaubt, nur die Männchen würden summen und nur die Weibchen stechen, oder umgekehrt. Also dass die, die summen, dann eben nicht stechen und wie Trommler im Dreißigjährigen Krieg nur ihre bewaffneten Kameraden beim Blutbad anfeuern: Auf sie mit Gesumm!
Gefährliches Halbwissen leider nur. Denn diese Mücke sticht. Und summt. Und sticht. Und zwar immer mich, denn ich bin zurzeit der einzige Warmblüter in der Wohnung. Ich bilde mir aber nichts darauf ein – eine Auswahl hat sie nun mal nicht. Ich habe mittlerweile fast schon Angst davor, ins Bett zu gehen. Denn das ist ihre Lieblingszeit. Sobald ich schlafe, sticht sie mich. Vorher nicht, sie geht kein Risiko ein.
Warum, mögen sich längst manche Leser gefragt haben, haut er das Arschloch nicht einfach zu Brei? Normalerweise sind Mücken ja so stulle, dass man nur lang genug warten muss. Bis sie sich so richtig bequem hingesetzt haben und bereits den Rüssel Richtung Haut tunken. Dann erwischt man sie am besten. Und da sie die letzte ist, lohnte es sich hier sogar, einen auf Kamikaze zu machen und sich bewusst ein allerletztes Mal stechen zu lassen. Hopp oder topp, sie oder ich, das letzte Duell. Einfach nur, um ganz sicher zu gehen. Dann hätte der Spuk endlich ein Ende.
Verfolgung zwecklos
Doch die letzte Mücke ist superschlau und extrem vorsichtig. Stets umschwirrt sie mich nur mit großem Abstand. Sie ist klein und wendig, eine Verfolgung zwecklos. Und sie kann warten, sie hat ja unendlich viel Zeit. Also für ihre Verhältnisse. Ich laufe ja nicht weg, wo soll ich denn schon hin? Da draußen ist es kalt und niemand wartet dort auf mich. Denn es ist Winter, auch in meinem Leben. Alle hassen mich: Die Gleichalten, weil ich finde, dass die Klebekinder recht haben, ich für die Unterstützung der Ukraine bin und mich Nazis mehr stören als Gendersterne; die Jüngeren, weil Humor für sie grundsätzlich Faschokram ist; die Älteren, weil sie mir meine Schönheit und Jugend neiden.
Außerdem hat die Mücke gerade, weil ich vor Ort das einzige potenzielle Beutetier bin, alle Muße, meine Persönlichkeit und meine Gewohnheiten zu studieren: Zu welchen Zeiten befinde ich mich an welchen Orten, wie gut sind meine Reflexe, kann ich ihr theoretisch überhaupt gefährlich werden? Wären hier mehrere Menschen, käme sie womöglich durcheinander, denn es ist mit so einem kleinen Hirn bestimmt nicht leicht, verschiedene Opferprofile nebeneinander anzulegen und die Karteien dann auch noch gewissenhaft zu führen.
Angriff im Morgengrauen
Doch so weiß sie haargenau, wie ich ticke, und greift deshalb hauptsächlich im Morgengrauen an. Man muss nicht Psychologie studiert haben – der gesunde Mückenverstand und eine gute Beobachtungsgabe reichen völlig aus. Und da hat sie eben recherchiert, dass der Typ – also ich – im diffusen morgendlichen Halbdunkel grundsätzlich nicht das Licht einschaltet, weil er denkt, er könnte da was sehen. Das ist dumm, denn so erwischt er die Mücke nie. Und sie ihn immer. Es ist im Grunde ein ungleicher Kampf – hier dieses hilflose, klobige Stück altes Fleisch, dort diese perfekte, hochspezialisierte, supermobile Nerv-, Summ- und Blutsaugmaschine, das Meisterstück der Schöpfung Gottes, oder des Teufels. Für sie ist es jedenfalls ein Elfmeter.
Davor, im Schlaf, hat sie mich auch schon mehrmals in die nachts unbedeckten Körperstellen gestochen. Erstaunlich, wie es eine kleine Mücke schafft, einen großen Mann binnen Stunden in eine juckende Kraterlandschaft, einen rauchenden Trümmerhaufen, einen Berg aus Wahnsinn und Schmerz zu verwandeln. So viel Durst kann sie doch gar nicht haben. Respektive Hunger. Ähnlich wie Bier ist Blut ja auch ein Nahrungsmittel. Der sinnlose Overkill erinnert an einen Marder, der in den Hühnerstall eindringt und einfach alle Hühner tötet, nur weil er es kann.
Warum ist das Vieh denn überhaupt noch da, früher blieb man doch wenigstens in der kalten Jahreszeit verschont? Das ist mit dem Klimawandel offenbar vorbei. Dürren, Überschwemmungen, Hungersnöte schön und gut, aber wenn hier so einen First-World-Heini mitten im Winter eine Mücke sticht, dann hört bei mir echt der Spaß auf.
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