Die Wahrheit: Tag der offenen Hosentür
Der letzte Mode-Schrei: Den Stall untenrum nicht geschlossen halten ist kein Fauxpas, sondern Absicht junger Fashionistas.
Wer dieser Tage in Berlin jemanden mit offener Hose herumlaufen sieht und ihn oder sie darauf anspricht, erhält vermutlich nicht, wie früher, ein freundliches „Dit jeht dir en Scheißdreck an, wie ick ma anziehe!“ als Erwiderung, sondern eine erstaunliche Rechtfertigung: „Das ist ein Mode-Statement.“
In New York gehört der umgeschlagene Hosenbund, an dem ein oder zwei Knöpfe geöffnet sind, schon seit einer Weile zum hip-urbanen Erscheinungsbild wie Gesichts-Tattoos, E-Zigaretten und ironische MAGA-Kappen. Vor allem weibliche Mitglieder der Generation Z sind es, die den Aufknöpf-und-Umschlag-Kniff in der Leistengegend salonfähig gemacht haben. Andere Gruppen in der amerikanischen Metropole haben den Look mittlerweile bereitwillig adaptiert.
„Ist doch praktisch. Wenn mal wieder eine Ratte mein Hosenbein hinaufkriecht, kann sie durch den gelockerten Ausgang weiter oben bequem wieder rausschlüpfen“, freut sich ein Flyer-Verteiler auf dem Times Square. Und immer mehr Betrunkene, die in der U-Bahn ihr Genital aus dem offenen Hosenstall hängen lassen, entgehen einer Geldstrafe, indem sie sich auf ihr verfassungsmäßiges Recht auf freie Selbstentfaltung berufen.
Nun also Berlin. „Hier waren die Leute eh immer viel zu sehr zugeknöpft“, lacht Selina Jöricke und zieht ihr 9-Euro-Ticket hinter dem Reißverschluss ihrer Jeans hervor. Die 43-Jährige beschäftigt sich seit ihrem Studium mit der Bundeshauptstadt und kennt deren Subkulturen wie ihre Bauchtasche. Vor einem Jahr ist sie sogar hierher gezogen. Jetzt gibt sie kulturhistorische Szeneführungen, unter anderem durch Friedrichshain und am Finanzamt Mitte vorbei.
Gag mit Knöpfen
„Also, am Finanzamt vorbei im übertragenen Sinne. Ich mache das hier schwarz.“ Der Gag mit den Knöpfen ist ihr erstmals Ende Oktober aufgefallen, als sie auf dem Weg zu einer Muttermalentfernung gelangweilt durch ihre TikTok-Timeline wischte. Das Aufknöpfen sei ein befreiender Akt, bei dem man dem dicker gewordenen Bauch ein wenig Luft verschafft. Insofern dürfe er als emanzipatorische Ansage verstanden werden, als Antithese zum bedenklichen Revival des Magerwahns, den in letzter Zeit Models von Tom Ford oder Balenciaga propagieren.
„Heroin Chic? Die Zeiten sind vorbei“, beteuert Modebloggerin Jöricke. „Crystal Meth? Sicher. Auch Amphetamine, Benzos, Koks, Gras, Hustensaft, Opioide, von mir aus auch Ecstasy – aber Heroin? Das ist doch sooo Nullerjahre! Genau wie Modeblogs, seufz. Ich muss bald echt den Gürtel enger schnallen.“ Oder eben weiter.
Nicht nur über der Gürtellinie tut sich was. Von Schnürsenkeln, die jungen Menschen seit einer Weile als Symbol für feste Bindungen und verknotete Strukturen ein Dorn im Auge sind, haben sich inzwischen viele verabschiedet. Die Folge: halboffene Schuhe, die einem schon mal von den Füßen rutschen, was aber in Kauf genommen wird, ehe man zulässt, dass der Klettverschluss ein Comeback feiert.
„Bloß kein Retro mehr!“, warnt Selina Jöricke. „Millennials und GenZers wollen nicht an Dinge erinnert werden, die sie nie erlebt haben. Sonst kann man ja gleich wieder Kris Kross ausbuddeln.“ Das Hip-Hop-Duo trug Anfang der neunziger Jahre Kleidungsstücke falsch herum – und nahm so den Trend „absichtlicher Garderoben-Fauxpas“ um 30 Jahre vorweg. Doch ist in diesem Bereich noch längst nicht alles durchgespielt.
Schlips wie Schal
Berliner Junior-Manager, die nie gelernt haben, eine Krawatte zu binden, tragen wieder Schlips, aber wie einen Schal locker um den Hals geworfen. Business-Ladies, die im Fahrstuhl dezent auf die Laufmasche in ihrer Strumpfhose hingewiesen werden, lächeln überlegen: „Ist doch Absicht.“ Zwei Socken eines zusammengehörenden Paars zu tragen, gilt als fast schon so spießig wie das Wort spießig.
Eine spezielle App berechnet nach individuellem Sockenbesitz alle möglichen Kombinationen, um Tag für Tag Abwechslung zu garantieren. Und was geht auf Augenhöhe? Ein Start-up hat gerade ein spezielles schwer abwaschbares Brillenfett entwickelt, das man auf den Gläsern verreibt, um bewusst nachlässig rüberzukommen.
Der „Asi-Chic“ feiert fröhliche Urständ. Künstlerinnen streuen sich Brotkrumen ins Haar, 24-Stunden-Deos betonen Schweißflecken in der Achselgegend. Urintropfen, die sich auf der hellen Anzughose abzeichnen, sind bei Influencern jedes Geschlechts kein Grund zum Schämen mehr, im Gegenteil ein Zeichen von Empowerment: „Abschütteln und Tupfen sind Formen der Unterdrückung. My bladder, my choice!“
Selina Jöricke könnte noch Dutzende weiterer Beispiele nennen, muss aber ihren 16-jährigen Sohn vom Nachsitzen abholen. „Wenn ich bloß dran denke, wie unmöglich der heute wieder rumläuft … dann bin ich mega stolz auf ihn“, strahlt sie und reißt sich den letzten Knopf vom Dufflecoat.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Macrons Krisengipfel
Und Trump lacht sich eins
Frieden in der Ukraine
Europa ist falsch aufgestellt
Maßnahmenkatalog vor der Bundestagswahl
Grünen-Spitze will „Bildungswende“
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
USA und Russland besetzen ihre Botschaften wieder regulär
Krisentreffen nach Sicherheitskonferenz
Macron sortiert seine Truppen
Gentrifizierung in Großstädten
Meckern auf hohem Niveau