Die Wahrheit: Lana-Alarm in der Schneeallee
Alles wird immer schlimmer? Schluss mit dem deutschen Gejammer! Eine Kurzgeschichte ohne Klagen über Krisen und Kälte.
Pablo brachte vier Grappa aufs Haus, aber nicht die Hausmarke, der blasse Brand war angenehm mild. Mittlerweile hatte sich das Lokal geleert. Die Tische waren wieder frisch eingedeckt und bildeten mit den weißen Hussenstühlen eine Schneeallee, durch die der Wirt auf die letzten Gäste zusteuerte.
„Aus meiner privaten Flasche“, erklärte Abu und legte die längliche Ledermappe mit der Rechnung in die Mitte. Das Essen war hervorragend. Nebenbei hatte man die üblichen Probleme verhandelt: Krieg und Corona, knappe Energie im kalten Winter. Ob er denn etwas zu beklagen habe, wurde Abu gefragt. Er hatte die sanftmütigen Augen eines Mannes, der in tausendundeiner Nacht schon alles gesehen hatte.
„Wenn ich eins hasse, dann ist es das deutsche Gejammer“, antwortete Abu mit schmerzverzerrtem Gesicht, als ob er im Dunkeln barfuß auf vergessene Spielsteine getreten wäre. Und dann erzählte Abu, der eigentlich Abraham hieß, aber so durfte ihn nur seine Frau nennen, von dem, was er einen „Berg Probleme“ nannte.
Abus inzwischen drittes Lokal lag in einer lukrativen Touristengegend. Diesmal ein „Italiener“, obwohl er selbst keiner war und seine Belegschaft aus aller Welt stammte: der Koch aus Sri Lanka, der Pizzabäcker aus Kroatien, der beste Kellner Pablo aus Argentinien. Nur einer der Schürzenträger in Schwarz war tatsächlich Italiener, wegen seiner klirrenden Stimme trug er den Spitznamen „Metallinico“. Er bekam das höchste Gehalt, da er für das nötige Espresso-Ambiente sorgte und den Deutschen mit ihrem Pizzeria-Italienisch das Passende entgegnen konnte: „Allora, Signora! Come se dice? Bellissime!“ Männer begrüßte er mit „Dottore“.
Kellnerruf nach Klingelton
Die Bande bei Laune zu halten, sei nicht leicht, sie seien wie seine Kinder, meinte Abu mit müdem Blick. Er war verheiratet, hatte zwei kleine Söhne, um die sich seine Frau kümmerte, die immer zu Hause blieb. Für seine Familie gab er alles. Zugleich hatte er eine ukrainische Freundin: Lana. Und sie war nicht billig. „Alles war gut“, befand Abu, „anfangs.“ Lana war sehr kapriziös. Bald hätte sie begonnen, ihn jede freie Minute auf seinem Handy anzurufen. Die Kellner wären schon aufsässig geworden und hätten bei jedem Klingelton quer durchs Lokal gerufen: „Lana-Alarm!“
Abu ließ den Finger neben der Schläfe kreisen. „Lana hatte Probleme.“ Deshalb habe er kaum noch arbeiten können. Bis er eine Idee hatte. „Lana! Swetlana! So kann es nicht weitergehen. Ich kenne da jemanden“, stoppte er ihren Wortschwall. Abu hatte Dr. Wohleben in seinem ersten Lokal kennen gelernt. Der Psychotherapeut hatte dort stets allein gesessen, eines Tages war er mit Abu ins Gespräch gekommen. Wenn er mal etwas für ihn tun könne, sollte er sich melden, hatte Dr. Wohleben angeboten. Also rief Abu ihn nun an, schilderte die Probleme mit Lana, die aus Mariupol stammte, ihren Mann, einen Dichter, im Krieg begraben musste, und leitete ihre Anrufe von seinem Handy um auf das des Therapeuten.
Drei Monate später sprang der Doktor aus dem Fenster im sechsten Stock. „Gestorben ist er nicht, aber er hat sich sämtliche Knochen gebrochen“, berichtete Abu, der sich schuldig fühlte und ihm deshalb den Krankenhausaufenthalt bezahlte. Als Dr. Wohleben dann nach Hause wollte, finanzierte Abu eine koreanische Krankenschwester, in die sich der Doktor prompt verliebte. Da er nicht mehr in seinem Beruf habe arbeiten können, musste Abu schließlich auch ihn unterstützen.
In der Zeit habe sich Lana von Abu getrennt und einen neuen Mann kennengelernt, ein Kind von ihm bekommen, sei jedoch von ihm verlassen worden, am Ende verschwand der Neue. Die Gerüchte, dass er etwas damit zu tun habe, seien nur Gerüchte, er habe ein Alibi. So hieß übrigens sein erster Laden, verriet Abu, der Lana auch den Unterhalt für ihr Kind zahlte. Manchmal käme sie noch vorbei, anrufen wolle sie nicht mehr.
Geist in Gedanken
Pablo räumte die leeren Gläser ab. Im Hintergrund röhrte ein später italienischer Schlager: „Non sarò mai più stupido e puro come carta bianca.“ Ich werde nie mehr so rein und so dumm sein wie weißes Papier. Und in dem Moment, als die Stille der Musik nachhallte, stand sie in seinen Gedanken, einem Geist gleich, da. Wie am ersten Tag. Zitternd vor Kälte. In ihrem viel zu dünnen Mäntelchen. Verloren. In den Augen wuchsen Tränen. Und als er ihre Hand berührte, griff sie nicht nach seiner, sondern umarmte ihn so fest, als ob sie ihn nie mehr loslassen wollte.
„Ob ich etwas zu beklagen habe?“, kehrte Abu in die Gegenwart zurück. „Ja, ich habe Probleme, viele Probleme, aber jammere ich? Jammern sollen die da draußen.“ Entrückt blickte Abu aus dem Fenster ins Ungefähre, als ob er sehnsüchtig den ersten Schnee erwartete, der sich wie ein Laken auf alles legen würde. Dann nahm er die Ledermappe mit dem Geld an sich, stapfte tapfer durch das Spalier der grinsenden Kellner zurück an die Bar und kippte entschlossen einen Grappa aus seiner privaten Flasche in sich hinein.
Am Infantilentisch neben dem Eingang saß jetzt nur noch „der Stumme“, ein Onkel von Abu, ein ehemaliger Schauspieler, der einmal Hauptdarsteller in einer berühmten türkischen Westernoper war. Er soll mit einer Pornodarstellerin verheiratet gewesen sein, weshalb er dem Alkohol verfiel und seine Stimme verlor. Stundenlang starrte er in sein Glas.
Schon fast an der Tür, die Metallinico mit den schnarrenden Worten „grazie mille e buona notte“ aufhielt, noch eine letzte Frage an Abu: Wie hat der Doktor damals den Sturz aus dem sechsten Stock überlebt? „Er hatte Glück. Im Vorgarten standen Koniferen. Das bremste den Aufprall ab. Die Sträucher waren dann platt. Habe ich auch noch die neuen Koniferen bezahlt. Alles meine Kinder“, lächelte Abu, der eigentlich Abraham hieß. Und draußen vor dem Lokal fielen die ersten Flocken.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Greenpeace-Mitarbeiter über Aufrüstung
„Das 2-Prozent-Ziel ist willkürlich gesetzt“
Rücktritte an der FDP-Spitze
Generalsekretär in offener Feldschlacht gefallen
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Keith Kelloggs Wege aus dem Krieg
Immer für eine Überraschung gut
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Ampel-Intrige der FDP
Jetzt reicht es sogar Strack-Zimmermann