Die Wahrheit: Freunde fürs gute Leben

Was tun, wenn die üblichen Kneipenzocker aus Angst vor Corona nicht mehr in ihren Spielrunden sitzen? Auf den Sonnenaufgang warten?

Die neuen Solarleuchten waren fast alle defekt, weshalb es auf dem Goetheplatz genauso dunkel war wie damals kurz nach dem Tschernobyl-GAU, als Kungfu-Klaus die alten Laternen mit seinem Spezialtritt lahmgelegt hatte. Trotzdem erkannte ich den Typen, der um den Eulaliabrunnen tänzelte, schon von Weitem. Es war Raimund.

„Du rauchst wieder?“, sagte ich, als ich näher gekommen war. Er betrachtete belustigt die Kippe, die er zwischen den Fingern hatte. „Nur manchmal“, sagte er, „wenn ich abends rumstromere und in die hellen Fenster der Menschen mit dem glücklichen Leben kucke.“ Er nahm einen tiefen Zug: „Wir haben ganz vergessen, wie gut das ist!“

Er schaute mich an. „Was hast du noch vor?“ – „Keine Ahnung“, sagte ich: „Nach Hause gehen. Schlafen gehen.“ – „Komm!“, sagte er: „Wir gehen pokern. Lass uns ein bisschen Geld verlieren.“ – „Du hast überhaupt kein Geld!“ – „Du könntest mir was leihen.“ – „Du willst mein Geld verlieren?“ Er grinste. „Schreib’s auf die Ewige Liste.“

Er führte mich ins Procopop Z, wo seit Anbeginn der Zeiten ein paar uralte, eisgraue Typen in einer schlecht beleuchteten Ecke saßen und zockten. Der Legende nach war die Zockerrunde aus den Resten einer K-Gruppe hervorgegangen, die ein Vierteljahrhundert beinhart dafür gekämpft hatte, in Deutschland einen Sozialismus nach albanischem Vorbild zu etablieren. Am Ende mussten die Typen mitansehen, wie sich der Sozialismus auch in Albanien in Luft auflöste – seitdem hatten sie die Revolution auf Eis gelegt und jede Menge Falschspielertricks gelernt, um arglose Trinker im Procopop Z auszuplündern.

Ihr Tisch aber war leer. „Wo sind denn die Zocker?“, fragte Raimund den Brummbär hinter der Theke. „Willst du spielen?“, fragte der Brummbär. „O ja!“, sagte Raimund. „Hast du Geld?“ Raimund zeigte ihm die Scheine, die ich ihm geliehen hatte. Der Thekenmann zog sie ihm mit einer schnellen Bewegung aus der Hand. „Eine Anzahlung auf deinen Deckel“, sagte er. „Und die Zocker waren seit Monaten nicht mehr hier: Angst vor Corona. Sie gehören alle zur Risikogruppe.“

Er schob uns hinaus, weil er zumachen wollte. „Und nun?“, sagte Raimund. „Nach Hause gehen? Schlafen gehen?“, sagte ich. „Nichts da!“, sagte er: „Wir steigen auf den Taubenberg und warten auf den Sonnenaufgang. Wie früher!“

Ich weiß nicht, warum ich mitging. Nach zwei Stunden waren wir oben. Wir setzten uns auf die Bank, auf der wir immer gesessen hatten. Früher, wenn es am Horizont hell und immer heller wurde, fühlten wir uns wie die Könige der Welt, vor denen eine goldene Zukunft lag. Doch das war mehr als dreißig Jahre her.

Raimund lächelte trotzdem. „Forever friends!“, sagte er. Kurz darauf begann er zu schnarchen. Es würde noch ziemlich lange bis zum Sonnenaufgang dauern, und wir würden saumäßige Rückenschmerzen auf dieser Knochenkillerbank kriegen. Aber ich wusste, er hatte recht.

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Joachim Schulz wurde 1963 an der Nordseeküste geboren und in Regen, Wind und Nebel großgezogen. Er lebt mittlerweile in einer kleinen Welt in der hessischen Provinz, wo unablässig die großen Fragen des Lebens erörtert werden, und ist seit 1996 im Einsatz für Die Wahrheit.

ist die einzige Satire- und Humorseite einer Tageszeitung weltweit. Sie hat den ©Tom. Und drei Grundsätze.

kari

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