Die Wahrheit: Kesser Cancan am Gate
Das lebende Bein. Eine Fortsetzungs-Story der etwas anderen Art (Teil 9). Heute: Baxter fliegt auf …
Was bisher geschah: Bei Baxter, einem Ex-Geheimdienstler mit Goldfisch, taucht nach 35 Jahren Joane wieder auf, seine alte Liebe. Im Gepäck hat sie eine knifflige, ja blutrünstige Frage: „Was hat es mit dem lebenden Bein auf sich?“ Mörderisch spannende Nachforschungen nehmen ihren Lauf …
Innerhalb von Mini-, nein, sogar Mikrosekunden begann Baxter zu verstehen: Joanes geheimnisumwitterter Reisebegleiter auf dem Interkontinentalflug dort oben konnte gar kein anderer sein als der Superschurke Doktor Meimers oder zumindest jemand, der sich für ihn ausgab! Eindeutiger Beweis war der gerade durch die Luft flatternde bunt gescheckte Trademark-Trenchcoat, mit dem der Doktor oder sein Avatar sich in die erste Riege des Weltschurkentums vorzukämpfen gedachte, um eines Tages in irgendeinem Superhelden-Blockbuster als schillernder Widersacher und Oscar-Anwärter präsentiert zu werden.
Doch was genau hatte Joane mit dem Bösewicht ausgerechnet in San Diego vor? Wurde sie erpresst? Oder erpresste sie ihn? Und was bezweckte Doktor Meimers letzten Endes mit dem weltweiten Aufmarsch der einzelnen Beine? Und wo zur Hölle war der Trenchcoat gerade überhaupt?
Just in diesem Moment peitschte die Windböe das Kleidungsstück jäh über die Windschutzscheibe des zweistöckigen Kabriobusses. Vor lauter Schreck über die geraubte Sicht stieg der Busfahrer derart heftig auf die Bremse, dass es Baxter nicht länger auf seinem Sitz im offenen Obergeschoss hielt. Im Gegenteil: Er schoss wie ein Projektil über die Brüstung, verlangsamte seinen Flug ein wenig und fiel und fiel und fiel. Dabei hörte er sich lauthals schreien: „Whoooaaa! Wohin falle ich nur?!“
Faltraum oder Folter?
Insgesamt boten sich ihm mehrere Möglichkeiten dar: a) Dies war der billigste aller Autorentricks, alles Vorhergehende demnach vielleicht nur ein Falltraum, aus dem Baxter schweißgebadet erwachen würde; b) Einer der vielen Geheimdienste, für die er in der Vergangenheit gearbeitet hatte, versuchte eventuell mithilfe der in der Folterbranche aktuell sehr angesagten chinesischen Fall-Folter, ihn zum Reden zu bringen; c) Sein Leben war beinahe zu Ende, aber auf eine Art, die leicht neben der Spur lag: Er fiel womöglich am Film seiner eigenen Vergangenheit vorbei, und zwar gleich um ein paar Meter, sodass er weder an den verblichenen Sparringspartner José denken musste, noch an die treue Tante Trude, seine abhandengekommenen großen Zehen oder die rauschhaften Liebesnächte vor 35 Jahren mit Joane …
Zu Baxters großem Glück passierte nichts von alledem. Auf dem Rasenstück neben der Autobahn hatte die Flughafenbetreibergesellschaft Weeze als Herzstück ihres großen „Sommerferien-Festivals“ eine Hüpfburg für Kinder errichtet, in der d) der frühere Agent nun mit einem vernehmlichen Aufprall landete, sich nach ein paar Hüpfern ein paar Kinder von der Schulter wischte und sich mit einem Blick in die mitgeführte Plastiktüte versicherte, dass Goldfisch Koi wohlauf war.
Binnen weniger Minuten war Baxter zurück im Flughafen und konnte in der Schalterhalle für unschlagbare 9,99 Euro einen Ryanair-Flug nach San Diego ergattern, dessen Boarding gleich beginnen würde. In der Schlange am Gate 2C erklärte er dem gestressten Koi sein weiteres Vorhaben: „Zuerst gucken wir uns die Koalas im San-Diego-Zoo an, und danach gehen wir in den Balboa-Park, denn ich habe im Gefühl, dass es Joane ebenfalls dort hinziehen wird. Problematisch erscheint mir einzig, dass meine Wummen im Gepäckfach des Busses geblieben sind und es eigentlich nie eine gute Idee ist, sich unbewaffnet in den Showdown mit einem Superschurken zu begeben.“
Das Zittern des Fischs
Statt eine Antwort auf Baxter abzufeuern, begann der Goldfisch zu zittern. Seine Augen stülpten sich hervor. „Hätte ich Haare, würden mir diese zu Berge stehen“, stieß er mit Mühe hervor. „Siehst du auch, was ich dort sehe?“
Baxter wandte sich in Kois Blickrichtung und erstarrte. Drei einzelne, lebende Beine tanzten in einer Art Cancan an der Warteschlange der Passagiere vorbei, die sich soeben in Bewegung setzte, weil das Boarding begann, und wurden von den Bordbegleiterinnen in den Flieger durchgewinkt.
„Unglaublich“, sagte Koi fassungslos. Im Hintergrund vermeinte er Jacques Offenbachs schmissige Musik zu hören.
„Tatsächlich: Sie haben offenbar Priority Boarding“, stieß Baxter zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
In dieser Sekunde zerriss ein ohrenbetäubender Knall das Stimmengewirr im Terminal …
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