Die Wahrheit: Wissings Weichenwunder
Mit dem neuen Flaggschiff des öffentlichen Nahverkehrs wird die Bahn endlich pünktlich und gut. Probefahrt mit einem futuristischen Gefährt.
Als der Regionalexpress „DB 1A 2022“ lautlos und geschmeidig seine Türen öffnet, trauen wir unseren Augen nicht. Vom letzten Waggon bis zum Triebwagen vollverchromt und mit einer raumschiffartigen Schnauze versehen, wirkt das wie ein Instrument für Zeitreisen und nicht wie ein gemächliches Nahverkehrsmittel von Bad Liebenwerda nach Cottbus.
Gottfried Häberle, Direktor des Innovationszentrums der Deutschen Bahn, ist von unserem nur um wenige Sekunden verspäteten Eintreffen auf dem Probebahnhof noch immer beeindruckt.
Der 51-jährige Maschinenbau-Ingenieur, der eine gelbe Warnweste zum orangefarbenen Helm trägt, hatte uns zu einer Probefahrt mit dem nagelneuen Flaggschiff der ÖPNV-Flotte eingeladen. Während einer Exkursion auf einer geheimen Teststrecke in Brandenburg will uns Häberle jene Neuerungen vorstellen, mit denen das ehemalige Mobilitäts-Sorgenkind „Regionalbahn“ den Ansprüchen des liberalen Bundesverkehrsministers Volker Wissing genügen und Millionen autoverwöhnte Bundesbürger zum Umstieg auf die Schiene bewegen soll.
Nachdem wir die Schwelle zum salonartigen Innenraum überschritten haben, beginnt der Pünktlichkeitsfetischist Häberle um exakt 9.02 Uhr mit seinem Vortrag. „Deutschlands hellste Köpfe aus allen Bereichen der Wissenschaft haben sich über Jahre die Köpfe zermartert, um die Bahn moderner, effizienter und unbürokratischer zu machen“, holt der Schwabe aus. „Wir von der DB haben uns derweil primär mit diesem Kram hier beschäftigt.“
Beinfreiheit bis zum Kopf
Er klopft auf die Kopflehne eines Massage-Komfortsitzes mit Echtlederbezug und extra viel Beinfreiheit. „Weil wir den Hauptteil der Investitionssumme von 13,6 Milliarden Euro für erstklassige Inneneinrichtung und Toiletten mit selbstreinigenden Mahagoni-Klobrillen verprasst haben, mussten für die anderen Baustellen kreative und günstige Lösungen her.“
Dazu, erläutert der Planungsfachmann, sei es nötig gewesen, alte Muster zu durchbrechen und selbst vor unheilvollen Allianzen nicht zurückzuschrecken. „Wir haben zum Beispiel einen günstigen Deal mit der Physikalisch-Technischen Universität in Braunschweig geschlossen, statt viel Geld für eine Modernisierung der Infrastruktur zu verpulvern. Für einen Kasten Pils am Tag setzt der Hausmeister die dortige Atomuhr in Höhe der jeweils von Zügen bedingten Verspätung zurück.“
Häberle kramt sein Handy aus der Brusttasche hervor und aktiviert eine App. „Nach vierwöchigem Testlauf haben wir heute Donnerstag, den 23. Februar 1967“, bringt er uns auf den neuesten Stand der Zeitrechnung.
Um die unfreiwilligen Zeitreisenden an den Bahnsteigen aufzuheitern, ergänzt der Innovations-Direktor, habe man namhafte Comedians für humoristische Durchsagen gewinnen können. „Die Unterhaltungsprogramme sind dabei regional sehr unterschiedlich“, stellt er klar. „Das Rheinland wird von Guido Cantz mit lustigen Durchhalteparolen von Köln-Eifeltor aus zugebrüllt, in Niedersachsen nölt Oliver Pocher die Kundschaft voll, in Sachsen sucht das Comedy-Duo „Tellkamp & Steimle“ die Verspätungsschuld nach wie vor beim Merkel-Regime, und in Berlin wollte es sich die Regierende Franziska Giffey nicht nehmen lassen, höchstselbst für den ein oder anderen Lacher zu sorgen.“
Schaumdüsen für Partytouristen
Inzwischen ist es Mittag geworden. Weil es im Abteil immer heißer wird, haben wir unsere Oberbekleidung abgelegt. Auf die Notwendigkeit funktionstüchtiger Klimaanlagen angesprochen, gerät der Konstrukteur ins Schlingern. „Nach dem Einbau von Schaumdüsen und 5.000-Watt-Boxen für Partytouristen waren für solche Luxusartikel keine Mittel mehr vorhanden“, entschuldigt Häberle. „Glücklicherweise sind die Sicherheitsbestimmungen aufgeweicht worden, dass im Hochsommer auf lästige Abteiltüren verzichtet werden kann. Zudem dürfte es die FKK-Fans freuen, dass das Nacktfahrverbot in Zügen der Deutschen Bahn ab 2023 bundesweit fallen wird.“
Temperaturen wie im Glutofen, Dehydrierung und der Zeitsprung in die sechziger Jahre machen uns zu schaffen. Immerhin waren wir damals noch gar nicht geboren. Mittlerweile haben wir uns auch der Unterbekleidung entledigt und liegen in Embryonalstellung im Gepäcknetz. Bevor wir uns endgültig verabschieden, wollen wir von Häberle wissen, was es mit der geheimnisvollen „Charme-Offensive“ auf sich hat, mit der die krisengeplagte DB das Vertrauen ihrer Kunden zurückgewinnen will.
„Der ‚Extrawaggon‘ soll bald angekoppelt werden“, zitiert der Bahndirektor eine naive Glaubensvorstellung, die unter Bahnreisenden in besonders vollen Zügen kursiert. „Sobald die richtige Weiche im Rangierwerk der Ewigkeit gestellt ist“, japst Häberle und haucht uns den brandneuen Werbeslogan des Unternehmens zu. „Mehr Bahn geht nicht!“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen