Die Wahrheit: Mein erstes Eisloch
Der allererste Sprung aus der finnischen Sauna ins klirrend kalte Wasser am Polarkreis ist ein einprägsames Erlebnis.
I n Tampere las ich vor Jahren in der Sauna ein Schild: „Älä mene yksin avantoon!“ Auf Deutsch: „Nie allein ins Eisloch.“ Don’t swim alone in winter. Damals, im Sommer, kam ich aus der Sauna mit 112 Grad. Winter und Eisloch waren mir unvorstellbar. Bis heute hatte ich nur von meinem ersten Eisloch geträumt.
Seit vier Tagen am Polarkreis. Ich schaue über den zugefrorenen Fluss. Der Kemijoki liegt zwischen unserem Ufer und der Skyline von Rovaniemi. Polarkreis. In Deutschland brechen die Knospen auf, hier liegt Schnee auf dem zugefrorenen Fluss. Die Sonne strahlt. Ein Bohlenweg führt zur Treppe, die ins Wasser ragt. Da ist das Eisloch. Sauber ausgesägt. In Herzform! Von einer Umwälzpumpe wird es vom erneuten Vereisen freigehalten. Die soll man ausstellen, wenn man hineinsteigt.
Niemand ist hier außer Ulrike, die mich hergefahren hat. Sie steht parat mit ihrem Smartphone für das Beweisfoto. Sie lebt hier. Für sie ist das kalter Kaffee, für mich ist es der Moment der Wahrheit. Vor mir liegt eines der wenigen Dinge, die auf meiner ewigen To-do-Liste noch nicht abgehakt sind. Einmal ins Eisloch.
Eero hatte gestern gesagt: „Eisloch? Das wird dir gefallen!“ Teija hatte gefragt: „Du willst wirklich?“ Und Peter meinte: „Nicht nachdenken. Einfach reingehen. Wenn du nachdenkst, ist es zu spät. Und setz dir eine Mütze auf. Und am besten nicht mit dem Kopf untertauchen.“
Okay. Ich ziehe mich aus. Hänge die Klamotten über das Holzgeländer, ziehe die Badehose an, setze die Wollmütze auf, blinzle in die Sonne, schaue zur Stadt, und gehe los. Ich fühle mich wie Charles Bronson in „Spiel mir das Lied vom Tod“. Der Kemijoki ist mein Sweetwater. Ich atme, als würde ich Mundharmonika spielen. Statt des Bösewichts Frank wartet das Wasser! Ich denke nicht nach. Ich mag Kälte.
Ich steige die Stufen hinab. Schaue in das dunkle Wasser, das jetzt von gleißendem Schnee umrahmt ist. Der erste Fuß ist im Wasser. Donner, was kalt! Der zweite. Das Knie. Das Bein. Dann die empfindlichste Stelle des Mannes. Der Bauch. Nicht nachdenken, denke ich. Die letzte Treppenstufe. Ich suche mit den Füßen nach Halt und spüre Felsen unter meinen Fußsohlen. Ich bin drin, hocke mich bis zum Hals, taste aber sofort nach dem Geländer. Sicher ist sicher. Drehe mich, schaue zur Stadt, zu Ulrike. Die reckt den Daumen hoch.
Ich steige wieder raus. Der Körper wird warm, die Sonne strahlt. Ich bin sehr beglückt. Und ich bin weit und breit der einzige Eistaucher. Nein, jetzt kommen zwei Schneemobile vorbei.
Ulrike ruft: „Super. Ich habe einen Film gedreht.“ Ich habe das Handtuch schon in der Hand: „Ich brauche aber ein Foto. Zum Angeben“, erkläre ich. „Oh!“, sagt sie, und ich gebe alles: „Kein Problem. Ich geh noch mal rein!“
Es ist wirklich arschkalt, aber ich spüre den Ruhm, den mir dieser atemberaubende Moment im Freundes- und Bekanntenkreis bringen wird. Jedenfalls in dem außerhalb Finnlands.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Spiegel-Kolumnist über Zukunft
„Langfristig ist doch alles super“
James Bond
Schluss mit Empfindsamkeit und Selbstzweifeln!
Nachhaltige Elektronik
Ein blauer Engel für die faire Maus