Die Wahrheit: Das härteste Weihnachten seit 2019
Wohin bloß mit all der jahresendzeitlich bedingten Energie des Traditionalismus? Was soll man kaufen? Wo? Und für wen?
D as härteste Weihnachtsfest seit 1945 lauert auf uns, verkündigte kürzlich mit großer Freude der Fachwichtel aus Nordrhein-Westfalen. Damals schenkte man sich Brotmarken und buk fettfreie Kartoffelplätzchen, während man fror und keinen Tannenbaum hatte, falls meine älteren Verwandten mich richtig informiert haben.
Auch ribbelte man alte Pullover auf, aus deren Wolle man Socken für die Verwandtschaft strickte. Möglicherweise briet man sich gegen den Hunger auch Katzen und Hunde, während man die Familienexemplare von „Mein Kampf“ verfeuerte, um es etwas wärmer zu haben; darüber schwiegen die Großeltern. Oder aßen sie das Buch und warfen die Haustiere in den Ofen? Ich weiß es nicht, aber Armin Laschet weiß es offenbar erst recht nicht.
Da unser Familientreffen in diesem Jahr regelkonform abgesagt wurde, findet mein jahreszeitlich bedingter galoppierender Traditionalismus kein Ventil. Für wen soll ich überhaupt einkaufen? Egal, etwas Besonderes muss her! Die „Winter-Edition“ des Joghurts als Bratapfel und Vanillekipferl hatte ich bereits. Wieso gibt es nicht auch die Geschmacksrichtungen Semmelknödel oder Gänsefurz? Ich würde es probieren.
Als ich versuche, den Liebsten im Supermarkt zu den teuren Schokoladen zu lotsen, beginnt er zu jammern: „Bitte nicht wieder die mit Hering-Marzipan!“ Aber er hat keine Chance, denn zurzeit ist er das einzige Opfer meines Fütterungstriebs, der sich ungebremst zur Größe der Nordmanntanne vor dem Rockefeller Center auswächst, weil wir nämlich außer Essen zu zweit in diesem Advent gar nichts erleben. Nur die Anzahl der Kerzen auf dem Tisch ändert sich. Wie aufregend!
Fast hätte ich aus Langeweile schon nach meiner Häkelnadel und der Nachkriegswolle gesucht. Schließlich gibt es Neugeborene in der Verwandtschaft und im Freundeskreis – aber ein letzter Rest von Realismus flüsterte mir, dass die lieben Kleinen in zehn Jahren keine Babyjäckchen mehr bekommen wollen, und schneller werde ich es erfahrungsgemäß niemals schaffen. Meine Oma schob die Handarbeiten immer meiner Mutter zum Fertigmachen zu, weil sie ihr kreatives Leben mit Kleinigkeiten wie Säumen, Zusammennähen und Knopflöcherrändeln nicht belasten wollte. Ich kann sie gut verstehen, aber leider lebt meine Mutter nicht mehr.
Ach, Geschenke. Letzte Weihnachten brachte die Nachbarin lächelnd hochwertige, aber hässliche Dessertteller. Kurz war ich peinlich berührt, weil ich kein Präsent für sie hatte, bis ich ihre Gabe wiedererkannte. Da versank ich in einem Glühweinsee aus Fremdscham. Es war nämlich die Nachbarin, die immer ruft: „Wirf das nicht weg, ich kann das noch brauchen!“ Wahrscheinlich hätte sie selbst für Armin Laschet noch Verwendung. Und ich stand da mit diesen seltsam geformten Scheußlichkeiten, die mir gerade zum zweiten Mal überreicht wurden. Die Tellerchen werden demnächst ihr härtestes Weihnachtsfest seit 1945 erleben.
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