Die Wahrheit: Ich bin schuld an Tim Bendzko
Songtexte waren früher auf Englisch oder was ungeübte Ohren und kleinere Nagetiere dafür hielten. Heute sind sie auf Deutsch.
L iebe Jugend: Früher gab es kein Internet zum Nachgucken. Da musste man, wenn man wissen wollte, worum es in einem Popsong ging, diesen einfach verstehen. Das gestaltete sich aber oft schwierig, weil die meisten Texte auf Englisch waren. Damals sprachen die wenigsten Menschen in Deutschland gut Englisch.
Wollte man einen Song zu Hause am Küchenradio mit- oder gar auf einer Bühne nachsingen, obwohl man ihn nicht verstand, gab es verschiedene Möglichkeiten. Man konnte sich für viel Geld ein „Songbook“ kaufen. Sehr beliebt war zum Beispiel das „Beatles Complete“. Dafür musste man aber locker zwanzig oder dreißig Mark auf den Tisch legen. Hatte man soviel nicht, versuchte man herauszufinden, ob der gesuchte Song in einem „TOP Schlagertextheft“ abgedruckt war. Und wenn ja, in welchem. Ein „TOP Schlagertextheft“ kostete eine Mark fünfzig und war somit auch für Ärmere erschwinglich.
Meistens aber – das war die Standardmethode – „hörte“ man sich den Text trotz Englischschwäche „raus“. Oder „von der Platte ab“. Das hieß, man schrieb größtenteils phonetisch mit – und gab das Lied dann live ebenso lautmalerisch wieder.
Wenn Bands, die so ihre Coverversionen herstellten, dann irgendwann begannen, eigene Songs zu schreiben, gingen sie ähnlich vor. Nur im kurzen Sommer der Neuen Deutsche Welle war es anders. Danach aber tackerten die hiesigen Songschreiber sofort wieder wahllos ein paar real existierende englische Klischee-Reime zusammen – maybe, baby; walk, talk; cry, high – und bewegten sich ansonsten eher im Bereich einer quasi-dadaistischen angloamerikanischen Klanglyrik. So sangen sie dann oft etwas, das für ungeübte Ohren und kleinere Nagetiere zwar wie Englisch klang, aber keinen, kaum einen oder einen nicht beabsichtigten Sinn ergab.
Das deprimierte mich – als jemanden, der zufällig, familiär bedingt, einigermaßen gut Englisch spricht – enorm. Deswegen stellte ich mich in den frühen neunziger Jahren auf Marktplätze und an Straßenecken und predigte: „Singt Deutsch, ihr Spackos!“ Und die Bands antworteten: „Aber dann klingt alles so banal!“ Ich aber sprach: „Ist doch wurscht. Dann klingt es eben banal. Sagt, was ihr zu sagen habt, und tut es in einer Sprache, die ihr beherrscht. Alles andere ist Mumpitz!“ Und die Bands und Singer-Songwriter hörten auf mich und sangen fortan auf Deutsch.
Dafür möchte ich mich hier an dieser Stelle aufrichtig entschuldigen. Von ganzem Herzen. Aus tiefster Seele. Es war falsch. Ich wollte niemals, dass so etwas wie Tim Bendzko passiert. Oder Revolverheld, Johannes Oerding, Silbermond, Max Giesinger, Andreas Bourani, Philipp Poisell. Oder gar Xavier Naidoo.
Ich wünschte mir, deutsche Künstler sängen wieder, wie einst die Berliner Beatband The Lords: „When I was young, you know / I couldn’t speak and go / my mother worked each day / and she learned me to say!“
Die Welt wäre eine bessere.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Tabubruch der CDU
Einst eine Partei mit Werten
Jugendliche in Deutschland
Rechtssein zum Dazugehören
Jens Bisky über historische Vergleiche
Wie Weimar ist die Gegenwart?
Krieg und Rüstung
Klingelnde Kassen
Mitarbeiter des Monats
Wenn’s gut werden muss
Social-Media-Star im Bundestagswahlkampf
Wie ein Phoenix aus der roten Asche