Die Wahrheit: Hormonrausch in alten Hosen
Gleich zwei Gedenktage erinnern heute an die angenehmen und bequemen Seiten des Lebens: Der eine hat mit Karl Lagerfeld zu tun. Der andere nicht.
Zwei hochrangige Feiertage fallen heute zusammen: weltweiter Jogginghosentag und Weltknuddeltag! Zeitgleich finden Kongresse in unterschiedlichen Städten Deutschlands statt. Wir müssen uns schier zerreißen, um von beiden berichten zu können. Zuerst besuchen wir das Weltknuddelmeeting in Freiburg, wo sich unter Anleitung erfahrener Kuschelexperten schon Hunderte in der Wodan-Halle zu Supertramps „Know Who You Are“ behutsam bewegen.
Hier ist es egal, ob man attraktiv oder hässlich, Vorstandsvorsitzender oder Hartz-IVler ist – ein Obolus von 20 Euro sichert jedem zärtliche Streicheleinheiten. Hier ist man einfach nur Mensch und von gesellschaftlichen Masken befreit, unter denen man sich gewöhnlich Zuwendung erschleicht. Wir bekommen einen typischen Dialog mit: „Darf ich dich hier berühren?“ – „Nein, nein, nicht hier, das tut weh, ich habe eine Schulterthematik, bitte weiter unten.“ – „Da möchte ich aber nicht, das wäre Sex.“ – „Ach so, wäre hier am Arm okay?“ – „Meinst du mit Ja auch wirklich ein Ja?“– „Nein.“ – „Was?“
Hier schreitet Kuscheltrainer Johannes Ditten ein. „Ein Nein ist ein Nein, ein Ja ist ein Ja.“ Was ist mit doppelter Verneinung? Egal, alles ganz spontan. Der Kopf ist ausgeschaltet. Wem eine zärtliche Berührung unangenehm ist, der darf das sagen. Wem das achtsame Kuscheln zu sanft ist, wird von einem diplomierten Raufleiter beim spielerischen Raufen angeleitet oder geht auf die Auszeit-Matte für Menschen, denen irgendwas zu viel oder zu groß wird. In tiefer Absichtslosigkeit und Um-in-Beziehung-zu-Gehen teilt man Obst und Plätzchen, das Kuschelhormon Oxytocin wabert in Schwaden durch die Halle.
Eine Teilnehmerin erzählt, sie wolle sich ans unverbindliche Kuscheln gewöhnen, weil ihr Freund eine offene Beziehung führe. Als ein verklemmt wirkender Nerd linkisch fragt, ob er mal seine Finger in unsere Nasenlöcher stecken darf, wird uns doch ein wenig flau. „Popeln können wir selber“, verabschieden wir uns.
Sportlich, sportlich
Wir fliehen zum Auto und erreichen Mülheim an der Ruhr. In einem zwielichtigen Etablissement namens „Zum feuchten Pinsel“ wird der Jogginghosenwelttag ausgerichtet. Auf unsere Frage, wie viel der Eintritt kostet und ob wir zu spät sind, fordert der Türsteher einen Sixpack und grummelt, dass sowieso alle später kommen, es läuft noch Handball. Klar, Jogginghosenträger sind sportlich. Wir rennen zur Tanke, holen Eintritt und betreten den Saal. Zwei Typen mit strähnigen Haaren und Hosen starren auf einen Bildschirm und stopfen sich Chips in den Mund. Trainingshosenprofi „Didi“ hat seine brennende Kippe im Aschenbecher vergessen, zündet sich aber schon eine neue an. Als er seinem Köter eine Currywurst zuwirft, leckt der ihm Dutzende Male dankbar übers Gesicht. Didi schläft ein, sein Kopf sinkt auf die Schulter des Nachbarn. Keine Spur von gesellschaftlichen Masken und einengenden Knöpfen. Oxytocin pur! Wie bei den Bonobos.
Wir schauen die Hosen an: schwarz, dunkelblau, aber auch Tomate und andere Flecken. „Gibt’s hier ’nen Chef?“, fragen wir. Jemand weist auf ein besonders prächtiges Exemplar – Adidas im fortgeschrittenen Verwesungszustand – am Merkur-Spielautomat. Geschickt wirft der Silberrücken mit einer Hand Münzen ein, die andere lässig im verbeulten Beinkleid. Wir sprechen den Mann an: „Was halten Sie von Karl Lagerfelds Bonmot: ‚Wer eine Jogginghose trägt, hat die Kontrolle über sein Leben verloren?‘“ Der Jogging-Boss dreht sich ganz langsam um: „Wat ’n für ’ne Kontrolle?“ Er hat recht, Karl Lagerfeld hat sie ja längst selbst verloren. Trotz Stehkragen und Chanel. „Tragen Sie die Jogginghose auch bei der Arbeit?“ – „Klar, siehste doch.“
Lärm reißt uns aus der elaborierten Konversation. Gut gelaunte Jogginghosenbonobos torkeln herein. Großzügig werden Kippen und andere Substanzen verteilt. Die ersten Frauen tauchen auf, knutschen sich hemmungslos ab und haben scheinbar nichts gegen großflächigen Körperkontakt mit männlichen Kongressteilnehmern. Wir fragen eine Bauchfreie, ob sie auch „Nein“ sagen könne, wenn nötig. „Is mir doch latte.“ Das war deutlich.
Chloé ins Klo
Die Frauen tragen überwiegend knackige Modelle mit Strass-Blingbling. Dazwischen Kunststudenten aus Düsseldorf in Modellen von Vetements oder Chloé. Ein paar HipHopper sonnen sich in der Unaufmerksamkeit der echten Arschkrampen in ihren verkleisterten Kniekehlen-Endmoränenlandschaften.
„Von denen hat sich noch keiner wundgelegen auf der Couch“, raunt ein Veteran. Das ist aber das einzige kritische Wort, das wir hören. Auf die provokante Frage, ob er mit seiner Hose auch mal trainiere, antwortet einer, dem der Bart fettig funkelt: „Nee, du. Mir reicht dat, wenn ich andern dabei zugucken kann. Ich weiß, wo man meine Grenzen liegen tun.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Spiegel-Kolumnist über Zukunft
„Langfristig ist doch alles super“
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Abschiebung erstmal verhindert
Pflegeheim muss doch nicht schließen