Die Wahrheit: Im Nadelöhr der Gchichte
Skandal! Eine Radtour durchs Obere Mittelrheintal nach Bonn deckt erschütternde Zustände auf! Wann greift die Bundesregierung endlich ein?
G ern würde ich auf einen Skandal aufmerksam machen. Wo fange ich an? Vielleicht so. Aus Rücksicht auf das nahende Ende der Welt flogen wir in den Herbstferien nicht nach Teneriffa oder Sri Lanka, sondern radelten von Wiesbaden nach Bonn, zum Haus der „Gchichte“ (Helmut Kohl). Damit die Kinder auch etwas lernen.
Auf dem Weg liegt das Obere Mittelrheintal, die hessische Antwort auf den Grand Canyon. Nur mit noch mehr Gchichte, schon unterwegs. Hier stieg Goethe einem Mädchen nach, da überquerte Blücher den Rhein. Und dort malte Turner eine Loreley, die Brentano kurz zuvor erfunden hatte.
Fahrradfahrer trifft man auf dieser komplett steigungsfreien Strecke so gut wie gar keine, dafür ganze Geschwader schlaffer Rentner auf elekromotorisierten Hybridvehikeln, die als „E-Bikes“ verkauft werden, obwohl es sich recht eigentlich um Mofas handelt. Zwischen Rüdesheim und Assmannshausen wurde im Sommer ein neuer Radweg eröffnet. Links schiffsdieseln Schubverbände rotterdamwärts, rechts rauschen der Autoverkehr über die B42 und der Güterverkehr über die Bahnhauptstrecke um die Wette. Das Wort „Nadelöhr“ ist für diese Stelle erfunden worden.
Hier noch einen Radweg zu verlegen, erforderte neurochirurgische Präzision. Zu beachten war der Hochwasserschutz, auch mussten Blindgänger aus dem Zweiten Weltkrieg entfernt werden. Überdies ragt das ganze Konstrukt über das Rheinufer hinaus wie eine Brücke, die nicht über den Rhein führt, sondern an ihm entlang.
Stählerne Geländer schützen links gegen einen Sturz in die Fluten, rechts gegen sich überschlagende Automobile oder entgleisende Züge. Das fertige Teilstück hat eine Länge von 3.300 Metern, auf denen es sich wirklich himmlisch fährt. Das ganze Ding hat 33 Millionen Euro gekostet, so viel wie ein ICE. Und selten wurden Steuergelder sinnvoller investiert. Es wird auch immer günstiger, je mehr man nachrechnet. Ein Meter kostet nur 10.000 Euro, macht 100 Euro pro Zentimeter. Und jeder Millimeter, den sich das Rad bewegt, wurde mit zehn Euro aus Bundesmitteln ermöglicht. Ein Schnäppchen!
Leider kann dieses Prachtstück von Radweg nur erreichen, wer zuvor 200 Meter auf der Bundesstraße überlebt hat. Zum Ausgleich geht es in Assmannshausen nicht weiter. Man darf dort umkehren, die 33 Millionen erneut genießen, und in Rüdesheim die Fähre nehmen. Auf pfälzischer Seite geht’s nämlich durch bis Koblenz.
Dort hat es dann so sehr geregnet, dass wir mit dem Zug nach Bonn gefahren sind. Im Haus der Geschichte gibt es schließlich auf 22.000 Quadratmetern alles, wirklich alles, von getrockneten Augenringen (Konrad Adenauer) über etwa 300 historische Spiegel-Titel bis zu einer Fettecke aus abgesaugtem Hüftspeck (Joschka Fischer) – aber keine einzige taz. Ein Skandal, oder?
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Demokratieförderung nach Ende der Ampel
Die Lage ist dramatisch