Die Wahrheit: Sonderweg ins Anale
Gibt es tatsächlich historische Extrawürste für Deutschland? Oder kommen politische und kulturelle Entwicklungen hier nicht immer später als anderswo?
V on der Galaxie aus, in der ich mich gewöhnlich herumtreibe, geriet ich dieser Tage zum Broterwerb in eine andere, die ich schon seit Ewigkeiten nicht besucht, deren Existenz ich gleichsam vergessen hatte.
Einer der Milliarden Sterne in dieser Galaxie trägt den Namen „Historische Sozialwissenschaft“ und dort ist gelegentlich vom „deutschen Sonderweg“ die Rede. Industrialisierung? Später als andere Länder. Demokratie? Später. Kultur versus Zivilisation? In Deutschland dummerweise die (Dichter-Denker-)Kultur. Profifußball? In England 1888, in Deutschland 1972 – usw. Die These ist in der Geschichtswissenschaft umstritten. Wir lassen in der Ferne streiten.
Denn ich erinnerte mich an einen deutschen, nein, deutschsprachigen Sonderweg, den ich an dieser Stelle vor etwa fünfzehn Jahren erwähnt habe dank eines Buchs des amerikanischen Völkerkundlers Alan Dundes. Es trägt auf Deutsch den vielsagenden Titel „Sie mich auch! Das Hinter-Gründige in der deutschen Psyche“.
Die Botschaft in Kürze: Wir fluchen „Scheiße!“, beschimpfen ein „Arschloch“, wenn die Engländer und Amerikaner „fuck“ und „Motherfucker“ verwenden. Das Deutsche nimmt für Negatives aus den Sprachfeldern des Exkrementellen, das Englische aus dem Sexuellen. Dundes baut daraus – ähnlich wie Ernest Bornemann – einen anal geprägten „Nationalcharakter“, ein Ausdruck, der problematisch ist.
Nur das Deutsche ist bessesen
Nun fahndete ich im Netz noch mal nach dem Autorennamen und stieß darauf in einem 2012 erschienenen Buch: „Das Feuchte & das Schmutzige. Kleine Linguistik der vulgären Sprache“, verfasst von dem Romanisten Hans-Martin Gauger.
Gauger untersucht nun über ein Dutzend Sprachen aus der Nachbarschaft und kommt ebenfalls zu dem Ergebnis: Nur das Deutsche ist besessen von dem Exkrementellen für einen Tabubruch. Freilich verfügen die anderen Sprachen über ein Fäkalvokabular – was für ein Wort! –, aber sie benutzen es weitaus seltener. Selbst den erigierten Mittelfinger à la Stefan Effenberg habe das Deutsche zum „Stinkefinger“ fäkalisiert.
Auch Gauger lehnt die Deutung von Dundes ab, gleichwohl zieht auch er den Begriff „Sonderweg“ heran und müht sich, den Grund oder die Gründe dafür zu entdecken. Auf die Frage habe er keine Antwort: „Weder habe ich bei anderen Einleuchtendes gefunden, noch bin ich selbst auf Einleuchtendes gekommen.“
Nun aber ändert sich ja Sprache laufend, Sprache lebt, das ist kein Geheimnis. Deutschsprachige Jugendliche, manche von Geburt an mit einer zweiten Sprache vertraut, vermehren das Sexuelle fürs Fluchen deutlich: „Fick die Henne“, „Fick dich ins Knie“ oder das anglizistische „Ich gebe keinen Fick“ auf x oder y sind nicht nur in der HipHop-Szene geläufig.
Ehe ich wieder in meine Galaxie beame, tippe ich noch schnell auf den nächsten deutschen Sonderweg. Es wird zu den letzten Ländern in Europa gehören, die Cannabis rundum legalisieren. Schade.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Werben um Wechselwähler*innen
Grüne entdecken Gefahr von Links
Kanzler Olaf Scholz über Bundestagswahl
„Es darf keine Mehrheit von Union und AfD geben“
Weltpolitik in Zeiten von Donald Trump
Schlechte Deals zu machen will gelernt sein
Berlinale-Rückblick
Verleugnung der Gegenwart
Einführung einer Milliardärssteuer
Lobbyarbeit gegen Steuergerechtigkeit
Nichtwähler*innen
Ohne Stimme