Die Wahrheit: Lob der Bushaltestelle
Auf dem Dorf ist das Wartehäuschen ein Biotop der Hoffnung – besonders für Heranwachsende.
D ie Bushaltestelle ist das Dingsymbol des beschissenen Dorflebens und also randvoll aufgeladen mit Bedeutung. Ein Ausweg aus dem provinziellen Ennui. Das Tor zur echten Welt, in der man zwischen zwei Biersorten wählen kann, für ein Loch 500 Euro kalt bezahlt und junge Menschen Gimli-Bärte tragen.
Teenager erspüren das Sehnsuchtspotential des Haltekabuffs am deutlichsten. Ständig lungern sie dort herum und schießen sich weg, wobei sie natürlich von seinen baulichen Vorzügen profitieren. Es ist ein teilgeschützter Raum außerhalb der Familie, wo man in Ruhe eine Vorratsportion Wick Medinait zu sich nehmen kann oder eine mit Absinth scharf gemachte Raubtierbrause. Hier wird das nächste Relischwänzen generalstabsmäßig vorbereitet und auch schon mal gesanglich Vorfreude geschürt auf den ersten großen Malle-Trip – „Finger im Poooo, Mexikoooo“. Der Ort ist also immer beides, gesteigertes Dasein und die schöne Fantasie vom Ganzweitwegsein.
Meine aktive Bushaltestellenzeit ist schon Jahrzehnte vorbei, aber ich erinnere mich nur allzu gut daran, mit Beklemmung im Torso. Ich stand Morgen für Morgen, sogar samstags, um 5:30 Uhr, bei Eiseskälte – meiner Erinnerung nach immer bei Eiseskälte – am Häuschen und verteufelte meine Fahrschülerexistenz. Wick Medinait gab es noch nicht, jedenfalls für mich nicht. Aber es gab Heiner. Er war ein Hoffnungsschimmer, der unsere Gemüter erwärmte.
Heiner trug Kutte. Aber Bandaufnäher lehnte er ab, er hatte die Schriftzüge von Motörhead, Metallica und Fräulein Menke mit Edding und Kuli draufgemalt. Heiner konnte nicht gut malen. Er war ein paar Jahre älter als ich, Elektrikergeselle und fuhr ebenfalls jeden Morgen, außer samstags, mit seiner Zündapp an unserem stumm klagenden Wartegrüppchen vorbei. Er machte ein Gesicht wie ein Muli, stoisch, unbewegt, zutiefst sympathisch.
Die Straße führte bergauf. Heiner war von umfangreicher Gestalt, nicht fett, aber auch nicht einfach nur dick. Sein Mofa musste Schwerstarbeit verrichten. Interessanterweise hatten die Asphaltleger auf Höhe der Haltestelle eine kleine Unebenheit eingebaut, eine Senke in der Straße. Wenn er dort hindurchfuhr, stöhnte seine Zündapp auf. Und wir lachten uns kaputt, weil es klang, als würde er selbst murren über diese zusätzliche Niedertracht des Lebens. Es war göttlich, eine Labsal für die Seele. Wir warteten jeden Morgen auf Heiner, bis er herangeschnurrt kam, um uns mit diesem existentialistischen Motorseufzer zu erfreuen, der für uns die triste Warterei auf den Bus, vielleicht sogar die dörfliche conditio humana akustisch auf den Punkt brachte.
Es gab aber auch Tage, in denen er nicht die Ideallinie fuhr und die kleine Delle umkurvte, dann blieb das Stöhnen aus. Das waren Scheißtage, an denen Latein-Klausuren geschrieben wurden oder Petra ihren sackartigen Pullover trug.
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