Die Wahrheit: „So muss es gewesen sein“
Im großen Wahrheit-Interview spricht der Enthüllungsjournalist Thomas Gsella über soziale Missstände im Raum Nordhessen.
taz: Herr Gsella, Sie haben 20 Jahre lang undercover in dem Schreibwarengeschäft Thomsen & Rademacher in der Kleinstadt Fritzlar im Schwalm-Eder-Kreis gearbeitet …
Thomas Gsella: Jawohl, und zwar auf eigene Faust!
Wieso?
Als Nachgeborener können Sie das nicht verstehen. Ich stamme noch aus einer Generation mit Idealen. Als Jugendlicher habe ich die Enthüllungsromane von Upton Sinclair gelesen und die Rollenreportagen von Gerhard Kromschröder und Günter Wallraff. Und da habe ich mir gesagt: So willst du auch mal werden, Thomas. Missstände aufdecken, das ist dein Ding!
Und welche Missstände haben Sie in dem Schreibwarengeschäft Thomsen & Rademacher aufgedeckt?
Das steht alles in meinem Buch.
Für das Sie aber noch keinen Verlag gefunden haben.
Stimmt. Das ist auch wieder so eine Schweinerei. Anfangs hatte ich noch gute Angebote von Suhrkamp, Rowohlt, S. Fischer und Kiepenheuer & Witsch, und mein Agent wollte bei der Versteigerung zweihundert Mille rausholen, aber dann war denen das Eisen wohl doch zu heiß. Und jetzt machen auch die Kleinverlage reihenweise einen Rückzieher.
Mit 1.800 Seiten ist das Manuskript allerdings auch recht umfangreich …
Die ursprüngliche Fassung war viermal so lang. Ich habe sie bis an die Schmerzgrenze gekürzt. Und trotzdem beißt keiner an.
Haben Sie mal an Self-Publishing gedacht?
Das wäre unter meinem Niveau. Ich bin ein renommierter Autor und wünsche mir für dieses Werk einen angesehenen Verlag, der eine dreibändige Ausgabe in Leinen mit Schuber, Lesebändchen und Personenregister herausbringt.
Wie viele Personen kommen in Ihrem Buch denn vor?
So an die 12.000. Hauptsächlich die Kunden, die in dem Schreibwarenladen ein- und ausgegangen sind. Denen habe ich aus Gründen des Datenschutzes natürlich andere Namen gegeben.
Aber sonst sind Sie bei der Wahrheit geblieben?
Selbstverständlich.
Erzählen Sie uns doch einmal von einem der Missstände, die Sie aufgedeckt haben.
Ich bitte Sie! Damit würde ich mir selbst ins Bein schneiden. Ich habe 20 Jahre meines Lebens in dieses Projekt investiert und denke nicht daran, hier irgendetwas preiszugeben und dadurch die Sprengkraft zu vermindern, die von der Veröffentlichung meines Werks ausgehen wird.
Können Sie uns nicht wenigstens ein klitzekleines bisschen verraten?
Na gut. Aber nur ein einziges Detail: Im Jahr 2007 wurden drei Montblanc-Füller aus dem Geschäft entwendet, und gewisse Indizien deuten auf einen Versicherungsbetrug hin.
Das ist interessant, denn uns liegen die Aufnahmen einer Überwachungskamera vor, die Sie beim Diebstahl dieser drei Füller zeigen.
Das kann nicht sein. Wahrscheinlich verwechseln Sie mich mit meinem Zwillingsbruder …
Dem Stammbuch Ihrer Familie zufolge, das uns ebenfalls vorliegt, haben Sie keinen Zwillingsbruder.
Pardon, ich wollte sagen: mit meiner Zwillingsschwester!
Sie haben auch keine Zwillingsschwester.
Nein? Das wundert mich. Ich könnte schwören, dass ich mit einer Zwillingsschwester aufgewachsen bin. Aber halt, jetzt weiß ich, wie sich dieses kleine Missverständnis aufklären lässt: Es gibt einen in der Nähe von Fritzlar ansässigen Doppelgänger von mir, der ein polizeibekannter Kleptomane ist …
Und der hat dann vermutlich auch die drei Millionen Blatt Kopierpapier gestohlen, die im Laufe der Jahre aus der Schreibwarenhandlung Thomsen & Rademacher verschwunden sind? Und die dreizehntausend Rollen Tesafilm?
Ja, genau! So muss es gewesen sein. Es ist gut, dass Sie diesen Fehlbestand ansprechen. Ich hatte mich selbst schon darüber gewundert. Aber wie gesagt: Näheres kann ich erst enthüllen, wenn ich einen Verlag für mein Buch gefunden habe. Wären Sie vielleicht an einem exklusiven Vorabdruck interessiert?
Nein.
Auch nicht für nur 2.000 Euro?
Das ist wahrscheinlich bloß zufällig genau die Summe, die der Haftrichter in Fritzlar nach Ihrer Inhaftierung als Kaution festgesetzt hat …
Sie können gern auch mehr bezahlen, wenn Sie wollen. Und ich mache ja gar kein Geheimnis daraus, dass ich hier in U-Haft sitze, obwohl ich unschuldig bin. Ich schwöre Ihnen, dass ich mit den Diebstählen nichts zu tun habe. Beim Leben meiner Großmutter!
Thomas Gsella
Mütterlicherseits oder väterlicherseits?
Väterlicherseits.
Ihre Großmutter väterlicherseits ist im Juli 1992 einem Raubmord zum Opfer gefallen.
Richtig! Ich erinnere mich …
Wo waren Sie in der Nacht vom 3. auf den 4. Juli 1992 zwischen acht Uhr abends und sechs Uhr morgens?
Lassen Sie mich mal scharf nachdenken. Da war ich … ähm … in Frankfurt! In dem Lokal Horizont an der Friedberger Landstraße. Da war ich praktisch jede Nacht.
Gibt es Zeugen dafür?
Klar! Ganz viele! Pit Knorr, Christian Y. Schmidt, Achim Greser, Heribert Lenz, Jürgen Roth …
Wir haben diese Auskunft von Ihnen erwartet und ein paar Nachforschungen angestellt. In der ersten Juliwoche 1992 war das Lokal Horizont wegen Betriebsferien geschlossen.
Ich möchte meinen Anwalt sprechen.
Wir sind nicht die Polizei, Herr Gsella.
Dann können Sie mich auch nicht verhaften. Ätsch!
Sie sitzen bereits in Haft.
Ach ja, verdammt …
Spuren am Tatort haben darauf hingedeutet, dass Ihre Großmutter väterlicherseits mit einer zweibändigen Ausgabe der Werke von Wilhelm Busch erschlagen wurde. Lesen Sie gern Wilhelm Busch?
Ich? Busch? Eher weniger. Eigentlich überhaupt nicht. Ist mir immer fremd gewesen, dieser … wie hieß er noch gleich?
Wilhelm Busch.
Sagt mir nichts. Können Sie den Namen bitte ganz genau buchstabieren?
Ihre Großmutter war eine wohlhabende Großgrundbesitzerin und hat Ihnen das Stadion von Rot-Weiß-Essen vererbt …
Sie meinen das alte Georg-Melches-Stadion?
Ja.
Da werden Sie kein einziges Indiz mehr finden. Das Stadion ist vor sechs Jahren abgerissen worden. Und ich glaube, dass wir jetzt so ziemlich alles beredet haben, was für Sie von Interesse ist. Tja – hat mich sehr gefreut!
Vielen Dank für dieses Gespräch, Herr Gsella.
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