piwik no script img

Die WahrheitDie große Überforderung

Kolumne
von Eugen Egner

In einem staatseigenen Betrieb für digitale Realitätsumwidmung kommt es stressbedingt zu außergewöhnlichen Vorgängen.

D en folgenden Fall habe ich bereits vor einigen Jahren zu referieren versucht, muss jedoch gestehen, dass es mir damals nicht gelungen ist, die Geschehnisse auch nur annähernd zutreffend und schon gar nicht vollständig zu schildern. Zwischenzeitlich dank höheren Alters zu vermehrter Geisteskraft gelangt, sehe ich mich heute imstande, einen Bericht abzugeben, der allen Erwartungen gerecht wird.

Mit Anfang dreißig (ich sah aber jünger aus) arbeitete ich bei einem staatseigenen Betrieb, der für digitale Realitätsumwidmung zuständig war. Wie aus meiner früheren Studie hervorgeht, verlangte die Regierung eines Tages, dass landesweit an ­allen Fußgängerampeln in kindgerechter Bedienungshöhe elek­tro­nische Vorrichtungen installiert werden sollten, mit denen es möglich war, den Autoverkehr fernzusteuern und die Gedanken der Menschen aufzuzeichnen.

Die Entwicklung dieser Vorrichtungen oblag der Abteilung, der ich angehörte. Niemand hatte eine Vorstellung, was nun zu tun sei. Meine Kolleginnen und Kollegen bemühten sich, die unmögliche Herausforderung auf mich abzuwälzen. „Das ist doch etwas für dich“, meinten alle. Die Abteilungsleiterin versuchte, mir einzureden, nur ich allein könne das von der Regierung Verlangte leisten. Das war purer Blödsinn, denn ich verstand absolut nichts von Elektronik. Als abhängig Beschäftigter hatte ich mich jedoch zu fügen. Man wies mir einen neuen Arbeitsplatz im abgelegensten Teil des Firmengebäudes zu und ließ mich mit meiner schier übermenschlichen Aufgabe allein.

Ich war damit so überfordert, dass ich, der ich stets ein Einzelkind gewesen war, eines Morgens eine Schwester hatte. Es handelte sich um eine stressbedingte Verdopplung zweiten Grades. Der erste Grad wäre ein identischer Doppelgänger gewesen. Meine Schwester sah mir nicht übermäßig ähnlich, insgesamt schien sie etwas stämmiger geraten als ich. Laut Mendel-Detektor entsprachen ihre Eigenschaften mehr der mütterlichen Linie meiner Vorfahren.

Ich wollte die Verdopplung ungeschehen machen und schickte mich an, Korrekturen an der sogenannten Realität vorzunehmen. Hierbei kam mir zugute, dass ich Berufserfahrung in der Realitätsumwidmung hatte. Wer über die nötigen Kenntnisse verfügt, kann nämlich schon mit relativ einfachen Mitteln gute Resultate erzielen.

Ich versuchte es mit Modelleisenbahn, Chemiekasten und Fotoapparat, musste jedoch feststellen, dass ich das Problem unterschätzt hatte. Es überforderte mich genauso hoffnungslos wie die von der Regierung gewünschte Entwicklung besagter elektronischer Installation. Es gelang es mir nicht, die Schwester verschwinden zu lassen – nicht einmal, indem ich sie mit Tarnfarbe anmalte oder ihr das Nichtexistieren mit einem Lippenstift ins Gesicht zu schreiben versuchte. Ich resignierte. Zum Glück bezieht die Schwester eine üppige Rente, von der wir beide gut leben können.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!