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Die WahrheitSchleichend Schluss mit Schlucken

Wer die „Sprechflasche“ hält, darf erzählen, warum er hier ist: in einem Kurs für „Kontrolliertes Trinken“. Mit Risiken, Misserfolgen und Fortschritten.

Illustration: Miriam Wurster

Bis vor Kurzem gab es für Alkoholismus offiziell nur eine Lösung: aufhören, und zwar komplett und für immer. Doch das neue Zauberwort heißt „kontrolliert trinken“.

Im von zehntausend Konsumeinheiten zum groben Sieb perforierten Gehirn des Betroffenen bleibt von diesem Wortpaar immerhin noch „trinken“ hängen. Das klingt doch gleich viel besser als die böse Nulldiät: Saufend trocken werden, oder besser gesagt, halbtrocken – das ist doch wunderbar! Erzprotestanten, Guttempler, Langweiler, Miesepeter, Betschwestern, Gesundheitsapostel, Sauertöpfe, Panikmacher, Krümelkacker, Askese-Nazis; all diese zutiefst verhassten Protagonisten der Nüchternheit können uns gepflegt am Hobel blasen.

Das war auch meine Haltung. Nun sitze ich bei Frau Dr. alk. Dipl.-Psych. Verena Parder-Wedde in Berlin-Rummelsburg, neben mir noch vier weitere Wracks der Altersklasse 50 bis 69. Wo bin ich hier bloß gelandet? Die durch die großen Fenster hereinfallende Spätnachmittagssonne erreicht nicht ganz unseren kleinen Stuhlkreis auf dem hellen Holzlaminat. Die Kursleiterin gibt eine selbstgehäkelte Schnapspulle zur Vorstellungsrunde herum. Wer die „Sprechflasche“ hält, darf erzählen, warum er hier ist.

Alkohol unter Anleitung

Die fast weißhaarige Hilde (64) hat mit dem Trinken begonnen, nachdem ihr Mann gestorben war. Irgendwer musste dessen gigantischen Getränkevorrat ja vertilgen, wäre doch schade drum gewesen. Mein direkter Nachbar Lothar (68) hatte Pech im Lotto. Barbara wiederum hat noch nie getrunken, weil sie Alkohol nicht ausstehen kann. Doch das Versprechen „kontrolliertes Trinken“ hat sie neugierig gemacht. Vielleicht, so die aparte Mittfünfzigerin, könne sie hier unter Anleitung den Alkoholgenuss erlernen, um auf Feiern nicht länger Außenseiterin zu sein. Während die anderen labern, lege ich mir meine Worte zurecht.

Es war so, der junge Arzt war neu, ich hatte ihn noch nie zuvor gesehen. Und egal, mit welchem meiner ganzen Prekariatsärzte ich die letzten dreißig Jahre gesprochen hatte: Noch nicht mal beim Rundum-Gesundheitscheck wurde jemals auch nur eine Sekunde lang verquaste Eso-Kacke thematisiert, wie meine Lebensumstände, meine Stimmung, meine Ernährung, mein Berufs- oder Sexualleben und mein Suchtverhalten. Die Blutwerte waren ja okay. Dieser übergriffige Quacksalber aber blickte mich nur einmal kurz an und sagte: „Sie müssen aufhören zu rauchen!“ Ohne meine Lunge abzuhorchen, mein Atem rasselte nicht und ich hatte ihm auch keinen blutigen Schleim auf den Schreibtisch gehustet.

Ich reagierte perplex: Wie er denn darauf käme? Er erklärte, rauchen wäre ungesund. Ach so. Das hatte ich zwar auch schon mal gehört, aber nie ernst genommen. Ich hatte das Geunke stets darauf zurückgeführt, dass die Tabakindustrie um ihre clevere Geschäftsidee beneidet wurde.

Noch nicht mal beim Rundum-Gesundheitscheck wurde jemals auch nur eine Sekunde lang verquaste Eso-Kacke thematisiert, wie meine Lebensumstände, meine Stimmung, meine Ernährung, mein Berufs- oder Sexualleben und mein Suchtverhalten

„In Ihrem Alter“, sagte er mit einem zweiten kurzen Blick, der mir wehtat, „steckt man nicht mehr alles so weg wie eventuell gewohnt.“ Er erwähnte auch noch irgendwie Cholesterin und Ernährung und andern Scheiß, ich wollte daher schon wieder abschlaffen, als das Wort „Alkohol“ fiel. Begleitet von einem dritten kurzen, doch dafür umso intensiveren Blick. Ich schwitzte. In dem Blick sah ich mein Gesicht gespiegelt, das heute morgen so aussah wie an zu vielen anderen Morgen. Er gab mir einen Informationszettel.

Zu Hause entdeckte ich auf dem Zettel das Angebot „KT – Kontrolliert Trinken, mehr Genuss, mehr Freiheit, mehr Sicherheit“. Mit dem Slogan „Es gibt mehr als Abstinenz“ wirbt der von den Krankenkassen bezuschusste Gesundheitskurs um Trunkenbolde diesseits jeder Hoffnung, die nach Schleichwegen um das leidige Aufhören herum suchen. Also um die meisten. Um mich. Noch am selben Tag buchte ich online den Kurs bei Frau Dr. Parder-Wedde.

„Das ist eine großartige Geschichte.“ Parder-Wedde wendet sich nun an die anderen Teilnehmer: „Finden Sie nicht auch?“ Allesamt nicken sie wie ferngesteuert. Solange kein Alkohol im Spiel ist, will so gar keine rechte Atmosphäre aufkommen.

Und noch schlimmer wird es, als sie lächelnd zur Disposition stellt: „Was könnte ich anstelle des Trinkens tun?“ Hilfloses Schulterzucken in der Runde, Nasenbohren. Wie „anstelle des Trinkens“? Es hieß doch „kontrolliert“ und nicht „anstelle“. Und für die Kontrolle hat man schließlich dieses dämlich grinsende Honigkuchenpferd da vorn bezahlt. Die blöde Sau. Die einen sind kurz vorm Ausrasten, die anderen kurz vorm Einschlafen. Wie Alkis halt so sind.

Erarbeiten von Trinkzielen

Doch zum Glück erfolgt ein rascher Themenwechsel, hin zum „gemeinsamen Erarbeiten von Wochentrinkzielen“. Sie fragt in die Runde: „Was könnten denn das für Ziele sein?“ Heißa, nun sprudeln aber die Vorschläge. Wer gerade noch wie leblos in seinem Stuhl hing, schnipst nun eifrig mit den Fingern, um sich einzubringen: besoffen sein, Flasche leer, Kasten blanko, hartes Erbrechen, Erarbeitung eines zweistelligen Europfandbetrags bei der Leergutannahme. Die Diplompsychologin ist begeistert von der regen Mitarbeit.

Und das Schöne ist: Wer das Pensum nicht schafft, muss dennoch nicht nachtrinken. Denn im Gegensatz zum Aufhören heißt das KT ein Scheitern ausdrücklich willkommen: „Eigene Ziele formulieren und … umsetzen, mit den Konsequenzen, Risiken, Misserfolgen und Fortschritten gelassen umgehen …“, steht bereits in der Kursbeschreibung. Wenn der Kasten nicht geschafft wird, versucht man es eben in der nächsten Woche aufs Neue, oder erarbeitet sich ein anderes Ziel, das für den Anfang vielleicht realistischer gesteckt erscheint. Das kann ein schwerer Kater sein oder eine nachts vom Sturz im Schlafzimmer aufgeschlagene Stirn – der Fantasie sind kaum Grenzen gesetzt.

Ein elementarer Teil der Methode liegt überdies darin, dass der Süchtige lernt, sein vom Alkoholmissbrauch quasi ausgeleiertes Belohnungszentrum zu stimulieren. Laut Leitfaden „gehören dazu effektive Tipps und Übungen, um in gute Stimmung zu kommen mit körpereigenen Drogen“. Parder-Wedde bittet um Beispiele. Die meisten nennen den Restalkohol vom Vorabend. Zusammen mit dem effektiven Tipp: Je gründlicher man vorgetankt hat, desto besser die Stimmung. „Wie könnte ich mir täglich eine Freude machen?“, fasst die Chefin die Aufgabenstellung zusammen, und unsere Antwort ertönt stolz im Chor: „Kontrolliert trinken!“

Lust ohne Ballast

Von draußen dringt Lärm durch das offene Fenster herein. Auf einer Bank im Hof lassen Trinker krakeelend Pappschachteln mit Rotwein kreisen, Hunde bellen. Das muss der postpräventive Gesundheitskurs „Unkontrolliert Trinken“ (UkT) sein. Fast hätte ich ja den belegt, denn nicht zuletzt ist der umsonst, während wir nach der Teilerstattung noch immer dreihundert Ocken pro Nase latzen müssen.

Ein wenig neidisch blicke ich hinunter zu den fröhlich grölenden Teilnehmern. Sie wirken so unbeschwert, so frei, so anarchisch. Ich verspüre nicht übel Lust, mir nach dem Ende der heutigen Sitzung den dort entstandenen Ballast in geselliger Runde von der Seele zu spülen. Vielleicht frage ich Barbara, ob sie mitkommt.

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