Die Wahrheit: Dünnpfiff mit Nutella
Trends: „Babypartys“ aus Übersee erobern die deutschen Wohnzimmer. Die Vorfreude auf Körperflüssigkeiten und Geschrei ist groß.
Die braune Pampe zwischen den Pobacken sieht nicht gerade einladend aus. Annabell, im achten Monat schwanger, verzieht die Lippen. Der Popo der niedlichen Babypuppe aus Naturkautschuk auf dem Wohnzimmertisch ist kackbraun verschmiert. Ist das wirklich …? Was haben sich ihre sonst so lieben Freundinnen dabei gedacht?
„Nur Nutella!“, rufen Annabells Freundinnen im Chor. Ein allgemeines erleichterndes Lachen, und unter lautem Johlen wischt Annabell die Nussnougatcreme mit Babyfeuchttüchern aus der Plastikporitze.
Vor wenigen Jahren aus den USA über den Atlantik geschwappt, erobert „The Baby Shower“ mittlerweile die deutschen Wohnzimmer: Die fröhliche „Babyparty“, bei dem das kugelrunde Bäuchlein einer Hochschwangeren mit den besten Freundinnen gefeiert wird – mit pastellfarbener Deko, Partyspielen, alkoholfreien Drinks und jeder Menge Geschenken.
Der Gabentisch ist auch bei Annabell, die in ihrem Reihenhaus in Delmenhorst feiert, mehr als üppig bestückt: Strampler, selbstgestrickte Söckchen, ein Flachmann für Notsituationen, Inkontinzenzwindeln und eine Schachtel Antidepressiva. Eine Freundin hat aus rotem und matschgelben Fimo eine Skulpur gezaubert. „Ein Vorgeschmack auf die Nachgeburt“, erklärt sie augenzwinkernd. Außerdem türmen sich auf dem Gabentisch jede Menge DVDs für die Zeit im Wochenbett, „24“ und „Zombieland“, sowie eine populäre Doppel-CD: „Crock of shit! Best of Baby Blues No. 3“.
„Meine Dammrissnaht ist fertig!“
„Bei der Babyparty ist es Aufgabe der weiblichen Gäste“, erläutert Eltern-Redakteurin Marietta Helms den amerikanischen Brauch, „die werdende Mutter auf die kommenden Monate vorzubereiten – nach allen Regeln der Kunst!“
16 Uhr: Das nächste Partyspiel kann beginnen. Annabells Cousine hat einen Stapel Bastelfilz, Scheren und Nähzeug mitgebracht. Gackernd macht sich die elfköpfige Partygesellschaft daran, die hautfarbenen Filzstücke erst zu zerschnippeln und anschließend mit Nadel und Faden wieder zusammenzunähen. „Meine Dammrissnaht ist fertig! Ich bin die Erste!“, ruft eine dunkelhaarige Frau mit Bobfrisur und alle applaudieren. Die Stimmung ist blendend, auch dank des literweisen alkoholfreien Strohrums, garniert mit „Frozen Mother’s Milk“-Eiswürfeln, bestellt bei einem Online-Versand aus Minnesota.
Überhaupt darf das Kulinarische bei einer Babyparty nicht zu kurz kommen. Deshalb ist jetzt Schlemmerzeit: Zwei Freundinnen präsentieren eine Sahnetorte, verziert mit erdbeermarmeladenroten Schwangerschaftsstreifen und Stücken rissiger Orangenhaut. Annabells Schwester hat ein Tablett voller „Cubcakes“ mitgemacht, mit Cremehauben in Dünnpfiffgrün und Kotzbraun. Der Teig ist fluffig und amorph wie das ausgeleierte Bindegewebe, das Annabell bald erwartet. „Mmmmh, lecker!“, ruft die Gästeschar und stürzt sich auf die sündig-süßen Leckereien.
„Speihkinder sind Gedeihkinder“
Nach der fröhlichen Kuchenschlacht lässt das nächste Spielchen nicht lange auf sich warten. Jetzt gilt es, sich im Wohnzimmer zu verteilen, fünfzigmal im Kreis zu drehen und sich im Anschluss in Zweiergruppen gegenseitig auf die Blusen zu reihern („Speihkinder sind Gedeihkinder“). Was dabei auf den handgeknüpften Kelim tropft, muss Annabell unter kicherndem Protest aus den Teppichfäden kratzen, während im Hintergrund der Smash Hit 2016 von Jennifer Lopez („Ain’t Your Mama“) aus den Boxen wummert. 17.30 Uhr: Vollgefuttert und ermattet sitzen alle zusammen auf dem immer noch leicht feuchten Teppich im Kreis. Die Hälfte der Anwesenden hat bereits Erfahrung auf dem Gebiet Geburt. Zeit, erlebtes Wissen weiterzugeben. Zeit für Gruselgeschichten. Die 39-jährige Christina richtet sich auf, knöpft die mintfarbene Bluse auf, zieht ihre Jeans ein Stück nach unten und zeigt allen ihre Kaiserschnittnarbe. Elf Zentimeter! Ein ehrfürchtiges „Oooh“ und „Uuiii“ schallt durch den Raum.
Lena, seit Kurzem Zwillingsmutter, erzählt von jener Folternacht, von ihrem Kurztripp in die Geburtshölle, ihrem ganz persönlichen Guantánamo. Erschauderndes Gackern. Gänsehautfeeling. Auch Annabells Mutter ist geladen. Die stark ergraute 63-Jährige hat eine ganz besondere Überraschung mitgebracht: Ihr leicht vergilbtes Schwangerschaftstagebuch von vor 37 Jahren.
Küsschen, Umarmungen und Tränen
„3. Mai 1979: Die siebte Austreibungswehe. Wie lang soll das noch gehen?! Treibt endlich diesen Teufel aus! Isolierhaft in Stammheim ist nichts dagegen!“, verliest die freundliche Dame mit sonorer Stimme, oder: „6. Mai 1979: Ich hasse ihn, diesen dauerplärrenden Matschkopf!! Und dafür habe ich meinen Job als Stenotypistin aufgegeben?“
19.00 Uhr: Die Babyparty neigt sich nun langsam dem Ende zu, denn alle wissen: Eine Hochschwangere braucht viel Ruhe und Entspannung. Glücklich und nutellaverschmiert geleitet Annabell alle Gäste zur Tür. Küsschen, Umarmungen und Tränen. Alle wünschen der werdenden Mutter einen guten Start in die schönste Zeit ihres Lebens und schleppen sich pappsatt heim.
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