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Die WahrheitDer Wurzelschläger

Kolumne
von Joachim Schulz

Wenn alte Bekannte plötzlich nach verrottendem Laub riechen, steht es um ihren Geisteszustand womöglich gerade nicht zum Besten.

Schnupper mal an ihm“, meinte Raimund an der Theke; „man riecht sein meschugge werden.“ – „Blödsinn“, sagte ich, „sowas kann man nicht riechen.“ – „Kann man doch!“ – „Kann man nicht!“ – „Kann man doch!“ So stritten wir, bis ich zur Toilette musste, den kleinen Tisch streifte an dem Speedo saß, und feststellte, dass er tatsächlich seltsam roch: Nach feuchter Erde, Moos, verrottendem Laub – nach altem, kalten Wald.

Dass sich Speedo in den letzten Wochen verändert hatte, war klar. Seit Langem schon zog er samstags über die Ü40- Partys, die inzwischen überall stattfanden, um dort eine Frau für eine Nacht aufzugabeln. Sein Tanzstil war ein atemloses Hochgeschwindigkeitstrappeln ohne Rhythmusgefühl (daher auch sein Spitzname) – und wenn seine Eroberungszüge niemals vergeblich waren, so lag das weniger an dem Getrappel als vielmehr an dem Männermangel auf jenen Veranstaltungen.

Obschon Speedo aber eigentlich nur Singlefrauen abschleppte – einmal musste es schiefgehen. Fest stand, dass er sich in der Schlafzimmerdunkelheit eines Hauses am Stadtrand befand, als plötzlich die Haustür klappte und eine Frauenstimme im Dunkeln japste: „Ach, du Scheiße, mein Mann!“ Speedo sprang aus dem Bett, fand in der Eile sein Gewand nicht, war aber dank seiner auf vielen Tanzpartys trainierten Grundschnelligkeit im Nullkommanichts durch das Fenster im angrenzenden Wald verschwunden. Dort war es so dermaßen finster, dass ihn kein Ehemann jemals aufspüren würde. In dem tiefen Dickicht gab es allerdings auch ziemlich angsteinflößende Geräusche. Und ohne Taschenlampe und GPS ließ sich aus diesem Grün garantiert niemals wieder hinausfinden.

Spaziergänger entdeckten Speedo am nächsten Morgen. Er hockte auf einem bodennahen Ast, klapperte vor Kälte mit den Zähnen und gab nur noch ängstliche Piepsgeräusche von sich.

Nach zwei Tagen in der psychiatrischen Klinik Ochsengrün war er weitgehend wieder alltagstauglich. Seitdem aber gingen deutliche Veränderungen mit ihm vor: Er zog nur noch Wildledersachen mit Fransen an, trug am Gürtel ein Fahrtenmesser mit Hirschhorngriff und wurde dabei gesehen, wie er am Fluss mit den Enten sprach. Abends saß er nun immer an dem kleinen Tisch im Café Gum, murmelte vor sich hin und beugte sich manchmal zu den Leuten am Nebentisch hinüber, um dann Sachen zu sagen wie: „In der Wildnis kommt es nur darauf an zu überleben!“ oder: „Könnt ihr vielleicht Feuer ohne Streichhölzer und Grillanzünder machen?“

„Schätze, er wird bald verschwinden und ein Leben in den Wäldern führen“, sagte Raimund schließlich. Doch als Speedo eines Abends tatsächlich nicht im Gum auftauchte, fand man ihn am nächsten Morgen neben einem Rotdorn in einem Pflanzkübel auf dem Goetheplatz, und als dann wieder zwei Pfleger aus Ochsengrün auftauchten, die ihn zu einer Spritztour einluden, sagte er, sie sollten ihn doch bitteschön nicht beim Wurzelnschlagen stören und sich verpissen.

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