Die Wahrheit: Muscheln à la seekranke Landratte
Zwar isst das Auge durchaus gerne mit, doch gibt es Speisen, die so hässlich sind, dass man sie besser mit geschlossenen Lidern verzehrt.
I ch habe nichts dagegen, wenn Speisen hübsch aussehen. Einmal hatte mich jemand in ein Restaurant eingeladen, in dem ein Spitzenkoch tätig war. Vorneweg servierte man uns einen „Gruß aus der Küche“: Auf dem Teller war aus verschiedenen Leckereien ein Stück Waldboden im Miniaturformat so täuschend echt nachgebildet, dass mir vor Entzücken die Kinnlade wie einem erzgebirgischen Nussknacker runterklappte. Zumal das Kunstwerk auch sensationell schmeckte – inklusive der aus einer Entenlebermousse gerollten Hasenköttel.
Andererseits weiß ich sehr genau, dass ein Gericht hässlich und trotzdem lecker sein kann. Das Lieblingsessen meiner Kindheit war Labskaus, eine Seemannsspeise, die aus Kartoffeln, Zwiebeln und gepökeltem Rindfleisch zusammengerührt wird. Noch heute bringt mich sein Wohlgeschmack zum Schnurren, doch es gibt Menschen, die meinen, dass sich der Erfinder des Gerichts vom Mageninhalt seekranker Landratten zu seiner Kreation inspirieren ließ.
Insofern schockte es mich nicht, als Maik den Deckel von dem riesigen Topf hob, der in der Mitte des Tisches stand. Er hatte mich und ein paar andere Jungs zum Essen eingeladen, die ihm geholfen hatten, bei Nacht und Nebel aus der Wohnung seiner nunmehrigen Exfreundin auszuziehen. „Mmh, Muscheln!“, sagte ich, denn als Sohn eines Fischauktionators habe ich schon in Knirpstagen gelernt, dass Miesmuscheln viel zu köstlich schmecken, als dass man sich von ihrem Anblick einschüchtern lassen sollte.
Andere freilich haben diese Lektion auch mit fünfzig noch nicht gelernt. „Maik, oh Gott“, schnaufte Luis, nachdem er ein paar geöffnet hatte, „die müssen dir irgendwelchen verdorbenen Mist angedreht haben, die Biester können doch nicht so aussehen, wenn sie gut sind!“ Bernd wiederum war so grün im Gesicht wie eine seekranke Landratte kurz vor der Labskauserfindung. Und Rudi, der Blödmann, hauchte bloß: „Alieneier! Jede Wette, das sind Alieneier!“
„Alieneier?“, flüsterte Bernd entsetzt. „Klar“, krächzte Rudi: „Kuck dir die schwarze Schleimfransennaht an, die grünen Dottersackbeulen … Alieneier, und wir haben sie in kochendes Wasser geworfen – das werden wir büßen!“ Schon hörten wir auf der Treppe lautes Stampfen und Rufen. „Sie kommen!“, kreischte Bernd: „Sie werden uns nach Alpha Centauri mitnehmen und mit extragalaktischen Foltermethoden quälen!“
Er sprang auf und versuchte, sich unter dem Sofa zu verstecken. Auch ich stand auf. Irgendwie roch es brenzlig. Ich trat hinaus in den Flur und blinzelte durch den Spion. Und weil ich draußen im Treppenhaus keine grünen Männchen sah, sondern nur dicke Rauchwolken und ein paar Feuerwehrmänner, die gerade die Tür zur Nachbarwohnung einschlugen, konnte ich den anderen mitteilen, dass wir leider doch nicht die ersten Menschen auf Alpha Centauri sein würden, dafür aber gleich rausfinden könnten, wie es sich anfühlt, von einem Balkon im vierten Stock in ein viel zu kleines Sprungtuch springen zu sollen.
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