Die Wahrheit: Flash – die Eilmeldung
Am Sonntag wurde Mutter Teresa heiliggesprochen. Vor neunzehn Jahren starb sie – und in der taz war damals die Hölle los.
Manchmal ist selbst die katholische Kirche schneller als die Wahrheit. Nicht zu ihrem runden zwanzigsten, sondern bereits zum neunzehnten Todestag hat der Vatikan am Sonntag die Nonne Mutter Teresa zur Heiligen erklärt. Als sie im Jahr 1997 das Zeitliche segnete, war kurz zuvor schon eine andere Heilige verstorben: Lady Di, „The Neurose of England“.
Diese Ereigniskumulation führte damals zu einer außerordentlichen Lage in der taz, die der seinerzeitige Chef vom Dienst, Thomas Eyerich, anlässlich des zehnten Jahrestags der dramatischen Ereignisse, 2007 auf der Wahrheit-Seite schilderte. Jetzt hat sich die Wahrheit entschlossen, den feierlichen Anlass der Heiligsprechung Mutter Teresas zu nutzen, um das brisante Stück wiederaufzuführen. Und von nun an soll es alle zehn Jahre pünktlich am 5. September auf der Wahrheit-Seite veröffentlicht werden. Amen.
Schnitter Tod ist ein gefürchteter Gast in jeder Zeitungsredaktion. Immer kommt er unangemeldet, stets zum falschen Zeitpunkt. Offenbar haben Sterbende, die zu Lebzeiten ein gewisses Interesse der Öffentlichkeit genossen haben, die saudumme Angewohnheit, erst ab 17 Uhr, kurz vor Redaktionsschluss, zu verscheiden. So ist es überliefert, dass der damalige Kulturchef der Tageszeitung Die Welt angesichts der Nachricht, Heinrich Böll sei just am späten Nachmittag gestorben, mit hochrotem Kopf auf den Redaktionsflur stürmte und brüllte: „Jetzt stirbt das Schwein zur Unzeit!“
Respekt vor Lady Di
In der taz ist das anders. Derart geschimpft wird hier nicht. Im Gegenteil: Hingebungsvoll und mit großem Respekt versucht man, den Verstorbenen gerecht zu werden. Zur Not auch eine ganze Woche lang. So geschehen vor zehn Jahren mit der toten Lady Di. Zwischen Eintreten des Todes und Beisetzung vergingen fünf Tage und vier Ausgaben mit sage und schreibe 17 Artikeln über den Vorgang. Jede Menge Recherche also, die volle Information. Noch nie wurde eine Leiche bis dato von der taz derart umfangreich gecovert, was dann auch prompt zum Problem wurde.
Wir schreiben Freitag, den 5. September 1997. Eine vollkommen ermattete Redaktion muss sich mit dem Hype-Ereignis „Begräbnis der Di“ befassen. Der Chef vom Dienst sagt: „Wichtig, wichtig!“ Der Seite-eins-Redakteur fordert: „Ideen, Ideen!“ Die Redaktion bittet um Gnade: „Uns fällt nix mehr ein.“ – „Die ist doch schon lange tot.“ – „Lasst uns lieber was über die Gruppe 47 machen.“
Kurz bevor CvD und Seite-eins-Redakteur resigniert ins Koma fallen, zeigt sich ein Licht am Ende des Tunnels: Elton John hat „Candle in the Wind“ umgedichtet. Wunderbar, die taz wird die Noten und den Text groß auf Seite eins drucken – zum Mitsingen am Fernseher. „Schön“, sagt die Chefredaktion, „ein taz-typischer Zugang.“
Alsbald wird eine fähige Kraft losgeschickt, um ein Elton-John-Songbook zu erstehen. Die Grafik muss die Noten bearbeiten, den Text „Goodbye England’s Rose“ liefern die Agenturen. Schön, so schön. Der Seite-eins-Redakteur muss heulen, der CvD trägt sich auf der Kondolenzseite des Buckingham-Palace (www.royal.gov.uk) ein. Alles geht seinen gewohnten redaktionellen Gang …
Doch plötzlich kommen erste Zweifel auf: Reicht das, um den kritischen Anforderungen der taz-Leserschaft gerecht zu werden? Es reicht nicht. Der Seite-eins-Redakteur muss weiterwirbeln. „Ideen, Ideen!“ Niemand hört auf ihn. Da stört die Fotoredakteurin. Statt sich an der Ideensuche zu beteiligen, war sie beim Mittagessen. Unten im Rudi-Dutschke-Haus. Beim Italiener: das berühmt-berüchtigte „Sale & Tabacchi“, in dem auch ein Helmut Kohl einmal in der Woche seine geliebten Spaghetti Carbonara verspeiste.
„Unten im ,Sale & Tabacchi' sitzt der Baselitz!“, berichtet die Fotoredakteurin mit hochroten Wangen dem Seite-eins-Redakteur. Sie dehnt das „a“, wohl um die Bedeutung des Künstlers auszudrücken: „Baaaaselitz“. „Hossa!“, spricht der Seite-eins-Redakteur nur wenig beeindruckt, kam es doch immer wieder vor, dass bedeutende Menschen sich die zweitteuersten Nudeln der Stadt gönnten.
„Warum erzählst du mir das?“ – „Na“, antwortet die für die Bildgestaltung der Seite verantwortliche Kollegin, „der könnte doch ein Porträt der Di erstellen, oder?“ Der Seite-eins-Redakteur kombiniert blitzschnell: Alle Fotos der am meisten fotografierten Frau der Welt sind gedruckt, der Maler kann malen – Superidee! „Und? Hast du ihn gefragt?“
Sie hat nicht. Prominenten-Hemmung wahrscheinlich. Der Seite-eins-Redakteur fackelt nicht lange, betritt das Lokal, und tatsächlich, da sitzt er, der Malerfürst. Vor einem Teller Nudeln und eingerahmt von zwei Damen. „Großer Meister, ich bin von der taz und habe eine ungewöhnliche Frage: Könnten Sie uns wohl ein Porträt der Lady Di, die ja morgen beigesetzt wird, malen, auf dass wir eine schöne Seite eins haben morgen?“, so oder so ähnlich fragt der Seite-eins-Redakteur.
„Nun“, antwortet der Meister, „warum nicht, die taz hat mich ja immer gut behandelt …“ Er hat seine Worte noch nicht ausgesprochen, da verwandeln die Damen sich in englische Furien, denn sie sind seine Managerinnen und wollen nicht, dass er durch willkürlich auf den Markt geworfene Werke die Preise verdirbt.
Tolles Bildchen
Aber es hilft ihnen nichts. Der Maler malt mannhaft ein Porträt, die Seite eins ist gerettet, der Seite-eins-Redakteur kann sich wieder seiner Arbeit widmen und gestaltet die schönste Seite eins seiner Karriere: mit einem Liedchen zum Mitsingen, einem tollen Bildchen, ach, es ist eine einzige Freude.
So stolz ist er, dass er die fast fertige Seite auch noch dem Kunstredakteur zeigt: „Sieh mal, ein echter Baselitz! Was sagst du dazu?“ Der Kunstredakteur sieht den Seite-eins-Redakteur mit arg sorgenvoller Miene an: „Ähm, was …? Wie bitte …?“, stottert er. Offensichtlich zweifelt der Kunstredakteur am Verstand des Kollegen. „Baselitz? Da steht doch eindeutig Immendorff, I-m-m-e-n-d-o-r-f-f.“ Der Kunstredakteur deutet auf die Signatur.
Wir schreiben Freitag, den 5. September 1997, mittlerweile ist es 19.44 Uhr. Kurz vor Redaktionsschluss kommt eine Eilmeldung der Nachrichtenagentur dpa herein: „CNN: Mutter Teresa gestorben.“ Wie zur Hölle soll der Seite-eins-Redakteur denn jetzt noch auf der fertigen Seite eins die gute Mutter Teresa unterbringen?
Es wäre nur zu verständlich, wenn der Seite-eins-Redakteur verzweifelt aufstöhnte, dass Profis morgens, nur Amateure aber immer am frühen Abend sterben. Doch mit gelassener Professionalität gelangt Mutter Teresa doch noch auf die Samstag-Seite. Oben links in die Brüll-Ecke, wenn auch falsch geschrieben – mit dem seither in der taz geflügelten Wort: „Flash! Mutter Theresa tot. Montag mehr.“
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