Die Wahrheit: Heimweh nach Hannover
Endlich raus der Kakophonie der Großstadt und hinein in die Stille der finnischen Wälder. Was für ein Traum! Wäre da nicht dieser Lärm.
D as elfte Gebot, vom großen Robert Gernhardt erlassen, lautet: „Du sollst nicht lärmen.“ Kaum jemand hält sich daran, darum entfliehe ich jedes Jahr all dem Geklingel der Fahrräder, dem Starten der Motoren, dem Gekreische der Menschen, der Kakophonie der Großstadt in die finnischen Wälder. Hier, dreißig Kilometer entfernt vom schönen Tampere, sitzen wir in einem kleinen Ort namens Ylöjärvi beim Frühstück vor dem Mökki, der nächste See in Sichtweite, nachts von höchstens fünf Mücken heimgesucht.
Das Mökki, das „Sommerhaus“, in dem wir wohnen, gehört unserer Freundin Marja-Riitta. Himmlische Ruhe in heller Nacht! Und jetzt tischen wir auf: finnischen Yoghurt – yogurtti –, dazu selbst gepflückte Blaubeeren – mustikka – und spanische Weintrauben – Espanjalaistä viiniä. Dazu finnisches Brot. Käse. Und natürlich Kaffee in rauen Mengen. Der Finne ist Weltmeister im Kaffeetrinken, mit 4,1 Tassen pro Tag. Die ersten Mücken – Hyttynnen – kommen vorbei und testen unsere Abwehrsprays.
Es ist herrlich! Das Wetter ist super. Es ist Juli. Haupturlaubszeit der Finnen. Kaum ein Mökki ist nun zu mieten, alle Finnen sind selbst dort. Dauernd. Unentwegt. Der Finne ist aktiv, und der Herbst steht auch vor der Tür, denn Mittsommernacht, der längste Tag des Jahres, liegt schon vier Wochen zurück. Also ist es für den Finnen nur noch eine Frage von Tagen, bis der erste Schnee fällt. Da will er gerüstet sein.
Die Eisbohrer sind längst geschärft. Aber irgendwie scheint ihm der Holzvorrat noch nicht ausreichend zu sein. Während wir das erste Brot bestreichen, will der Nachbar zur Linken, weit außer Sichtweite, aber in hervorragender Hörweite, seinen Holzvorrat erweitern.
Der Finne ist moderner, als viele Südeuropäer glauben, und dazu gehören für ihn alle Völkerschaften unterhalb Dänemarks. Der Finne sägt nicht mit der Säge, sondern mit der Motorsäge. Wer gerade nicht mit der Motorsäge sägt, spaltet ganze Stämme und schlägt dazu Eisenkeile mit Axtschwüngen ein, die Thor verblassen lassen würden. Aber am liebsten motorsägt er. Und er ist nicht allein.
Der Nachbar zur Rechten beginnt ebenfalls mit seinem Tagwerk. Kaum schweigt sein Gerät, startet der schräg hinter ihm. Der links hämmert nun. Und wenn ich „hämmern“ schreibe, meine ich hämmern. Hier wird kein kleiner Nagel zaghaft von Amateuren in die Wand geschlagen, sondern es werden Gesetze von finnischen Väinämoinens, ihrer führenden Sagengestalt, in Stein gemeißelt.
Vor allem aber sägt es. Laut. Kreischend. Drohend. Rundum. Sie unterscheiden sich nur in den Tonhöhen. Eine Symphonie der Sägen. Die Todesfuge für den Baum. Ein Kettensägenmassaker. Vor allem in unseren Gehörgängen. Wir sind im Auge des finnischen Orkans.
Der Finne sei schweigsam, sagt man. Das mag sein, aber er lässt seine Säge sprechen. „Kein Ort der Ruhe!“, sagt meine Freundin. „Lass uns fahren. Ich will wieder nach Hannover.“ Denn Hannover ist Ruhe und Frieden.
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