Die Wahrheit: Hacke dich selbst!
Früher war Wandern das Allerletzte, heute soll es cool sein. Doch in der Natur herrschen neuerdings die Timbersportler.
Endlich Sommer, raus aus dem stickigen Kessel, endlich durchatmen im tiefen Wald. Doch leider leben wir im Zeitalter der Waldverherrlichung. Deshalb sind die Wälder rings um die Stadt toll voll. Hundertschaften von Wanderern teilen sich die Pisten mit Bäumekuschlern, Unterholzschleichern und Amateurforschern, die sich berauschen am Belauschen der Bäume, die ja neuerdings miteinander kommunizieren sollen.
Was ist los? Wandern war früher das Allerletzte, aber seit ein paar Jahren ist es cool. Nur Einwandern finden manche nicht cool. Sind wirklich bloß Manuel Andrack und Hape Kerkeling schuld an der neuen Waldeslust? Und was suchen selbst die Fußkranken der Nation im finstren Forst – sich selbst? Leider ja.
Waldbächlein als App
Die üblichen Wissenschaftler haben herausgefunden, dass beim Waldspaziergang die Entspannung bereits nach fünf Minuten einsetzt. Am spannendsten soll die Entspannung sein, wenn irgendwo ein Waldbächlein plätschert – das Geräusch gibt es natürlich auch als App.
Aber ist das noch die Quicktime-Entspannung im Wald, von der die Wissenschaft schwärmt, wenn Off-Roader im VW Pavian die Wege freifräsen? Oder wenn vollbärtige Männer sinnlos auf Baumstämme einhacken? Sixpackbepackte, tätowierte Typen aus der Muckibude. Bäume von Kerlen, die ihre Rolle als Mann trotzdem ausgerechnet hier hinter der Fichte suchen müssen. Es hackt wohl!
Selbstverständlich kann man sich besser finden, wenn man dabei ordentlich Lärm macht. Das steht schon bei Hänsel und Gretel. Oder war es bei Rotkäppchen? Das weiß heute niemand mehr. Denn wer nicht auf der Baumschule war, hat eben keine Ahnung vom Wald. Man muss aber auch nicht vom geheimen Leben der Bäume träumen, bloß weil man mal frische Luft schnappen möchte. Aber der Wald ist eben wahnsinnig in. Bäume boomen. Wenn heute jemand sagt: „Alles im grünen Bereich!“, meint er streng genommen: „Ich glaub, ich steh im Wald!“
„Wir trainieren!“, sagen die Selbstfindungshacker schnapp-atmig. „Timbersportler“ nennt man solche Leute heute. Die Europameisterschaft der Sportart „Holzhacken im Schneisenschlag“ wird in den Schwäbischen Karpaten ausgetragen und hat sechs Disziplinen: Stock Saw. Chainsaw Massacre. Hot Saw. Single Buck. Underhand Chop. Standing Block Chop. Da fehlt einzig das Nervensägen der Timber-Simplen.
Mundgeschmiedete Werkzeuge
Simpel darf das Werkzeug allerdings nicht sein, sondern mindestens mundgeschmiedet. Und mit scharf angeschnittenem Hackenblatt, einer optimalen Gradeinstellung für 1.400 Späne die Minute und Sicherheitsverkeilung im naturgewachsten Hickory-Stiel.
Männer von heute haben eben Stihl. Denn es kommt der Tag, da will die Säge sägen. Jetzt würde das berühmte Brecht-Zitat über die Äste passen, auf denen sie saßen, aber dafür verlangen die Brecht-Erben einen Haufen Geld. Stattdessen gibt es kostenfrei einen Satz von Marianne Sägebrecht: „Ich bin meine eigene Begegnungsstätte!“ Und die findet sich neuerdings mitten im Wald.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Stockender Absatz von E-Autos
Woran liegt es?
Erfolg gegen Eigenbedarfskündigungen
Gericht ebnet neue Wege für Mieter, sich zu wehren
Wahlprogramm der FDP
Alles lässt sich ändern – außer der Schuldenbremse
Tod des Fahrradaktivisten Natenom
Öffentliche Verhandlung vor Gericht entfällt
Grüne über das Gezerre um Paragraf 218
„Absolut unüblich und respektlos“
Migration auf dem Ärmelkanal
Effizienz mit Todesfolge