Die Wahrheit: Duzen mit Gänsen
Biologie und Komik: Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung – heute mit zutiefst liberalem Federvieh (8).
Der Verhaltensforscher Konrad Lorenz war der Meinung: „Um eine Graugans zu verstehen, muß man als Graugans unter Graugänsen leben, muß man sich ihrem Lebenstempo anpassen. Ein Mensch, der nicht so wie ich von Natur aus mit einer gottgewollten Faulheit ausgestattet ist, kann das gar nicht“, denn seine zehn Graugänse, mit denen er fast täglich in die Donau-Auen ging, waren einfach nur „wunderbar faul“, wie er fand.
Sein Nachfolger auf der Forschungsstation, Kurt Kotrschal, hat später den Gänsen zwei Jahre lang Sonden implantiert, die ihren Herzschlag registrierten. Dabei kam heraus, dass dieser schon dann extrem in die Höhe schnellte, wenn die Tiere „soziale Kontakte zwischen ihren Artgenossen nur beobachteten!“ Anders gesagt: Lorenz’ Gänse saßen im Gegensatz zu ihm also gar nicht faul herum, es ging bei ihnen partymäßig hoch her – nur dass sie sich dabei „nichts“ anmerken ließen.
Feministisch beobachtete Ganter
Einige Tierschützer erboste das Implantations-Experiment derart, dass sie das Institut besetzten. Sie wurden daraufhin angeklagt. Bei der juristischen Klärung vorab, ob der Gänseforscher oder die Gänseschützer ein Verbrechen begangen hatten, ergab jedoch die Abwägung der Tatbestände Tierquälerei versus Hausfriedensbruch, dass das Verfahren gegen sie eingestellt wurde.
Das meiste Wissen über Gänse verdanken wir desungeachtet immer noch Konrad Lorenz, der dazu später – im eigenen Institut – auf die Protokolle von Gänsebeobachterinnen zurückgriff. Diese hatten alle Doppelnamen, waren also wohl feministisch inspirierte Ehefrauen mit Festanstellung in seinem Institut. Manchmal erlaubten sie sich in ihren Notizen launige Bemerkungen in Klammern über „ihre“ benamten Gänse – zum Beispiel: „Es sind ja auch nur Menschen!“ oder – bezogen auf einen Ganter namens Uwe, nachdem der nicht auf die Annäherungsversuche der Gans Britta reagiert hatte: „Warum sollte er auch?!“
Konrad Lorenz begann seine Gänseforschung 1923 damit, dass er das Gänschen Martina auf sich „prägte“, das heißt, er hatte – aus Versehen! – das erste Wort an sie gerichtet, nachdem sie in seinem Brutapparat aus dem Ei geschlüpft war. Martina hatte ihn daraufhin schief angekuckt und zurückgegrüßt, was wie ein „feines, eifriges Wispern“ klang – damit war er für immer ihre Mutter geworden.
Dies bedeutete, dass er sie bei sich im Bett schlafen lassen musste. Trotzdem wachte Martina stündlich auf und stieß ein fragendes „Wiwiwiwiwi“ aus – das Lorenz mit „Gangganggang“ beantworten musste, erst dann schlief Martina mit einem leisen „Wirrrr“ wieder ein. Neun weiteren kleinen Gänsen, die Lorenz wenig später ebenfalls auf sich prägte, war dagegen die Geschwisterschar genauso wichtig, während Martina im Zweifelsfalle stets seine Nähe suchte, was bedeutete, dass er sie überall mit hinnehmen musste. Der Einfachheit halber nahm er oft die neun anderen gleich mit.
Ortsfest trotz saisonaler Zugunruhe
Die heute 120 Gänse der Grünauer Forschungsstation, die weitgehend wild leben, werden noch immer als „relativ zahm“ und „ortsfest“ bezeichnet, das heißt, sie folgen nicht dem allgemeinen Zug der Graugänse nach Süden – obwohl sich im Herbst durchaus eine gewisse „Zugunruhe“ bei ihnen bemerkbar macht. Ihr Verhalten wird dort inzwischen mit Begriffen aus der amerikanischen Gesellschaft analysiert. So beschäftigt man sich etwa „mit den individuellen Kosten und Nutzen des Soziallebens dieser Vögel“, wobei sich mindestens der Institutsleiter von einem strengen Darwinismus leiten lässt: „Die einzige gültige Währung im Spiel der Evolution ist, mehr reproduktionsfähige Nachkommen zu hinterlassen als andere Individuen“, meint er.
Angeblich sehen das auch die Gänse so. Wie Konrad Lorenz in seinem Buch zur „Ethologie der Graugans: Hier bin ich – wo bist du?“ (1988) schreibt, steigt ein Gänsepaar im Rang seiner Schar, in dem Maße es ihm gelingt, lange zusammenzubleiben und möglichst viele Jungen großzuziehen. Generell gilt zwar, dass Gänse monogam leben, aber praktisch geht es auch in einer Gänseschar eher drunter und drüber.
Dazu eine Protokollzusammenfassung von Lorenz über die 1974 geschlüpfte Sinda, die zusammen mit Alma, Alfra, Jule und Blasius von Sybille Kalas-Schäfer handaufgezogen wurden, sowie die 1973 geschlüpften Florian und Markus, die zusammen mit etlichen anderen Gösseln von Brigitte Dittami-Kirchmayer geführt wurden. „Zunächst scheint es, als ob Jule mit Markus und Sinda mit Blasius ginge. Später wird Jule oft mit Blasius und Sinda mit Markus gesehen. Offensichtlich ist es die Unklarheit dieser Situation, die allmählich zu einem regelrechten Haß zwischen den beiden Gantern führt. Es kommt wiederholt zu einem Flugkampf zwischen Markus und Blasius.“
Der Hass der Ganter eskaliert im Frühjahr 1975 in einen Luftkampf, dabei wird Blasius verletzt. „In der Folge geht Sinda in dichtem Zusammenhalt mit Markus, zusammen mit Alma fliegen sie in geschlossener Schar. Der Haß zwischen Blasius und Markus bleibt, allmählich kommt es zu einer Überlegenheit des Blasius. Sinda wird einmal eng mit Blasius gesehen. Kurz darauf fliegen Alma, Sinda und Markus zu dritt weg, kommen nach einigen Tagen geschlossen zurück, Blasius etwas später zusammen mit Jule, mit der er nun fest verpaart ist.“
Schüchterne Gössel
Ähnlich wissenschaftlich und politisch beseelt wie Konrad Lorenz war der schwedische Jäger und Tierfotograf Bengt Berg, der ebenfalls Gänse erforschte. Was bei Lorenz die Gänsebeobachterinnen mit den Doppelnamen, war bei ihm eine selbstbewusste „dänische Gänsemagd“ ohne Namen. Und was für Lorenz Martina war, wurde bei ihm „die Gans Nummer 5“. In seinem Buch „Die Liebesgeschichte einer Wildgans“ (1930) erzählt Berg, dass er sechs Gänseeier von einer Pute ausbrüten ließ. Als die Gössel schlüpften, übernahm er sie, wobei er sie beringte – mit Zahlen von eins bis sechs. Die „Nummer 5“ war die „kleinste, zarteste und schüchternste“, deswegen kümmerte er sich besonders um sie. Sie konnte bald, wie ihre fünf Geschwister, fliegen, zog es jedoch vor, in Südschweden zu bleiben – auf dem Eis in der Bucht vor Bengt Bergs Haus, wo sie sich „eifersüchtig von einem großen kanadischen Gänserich bewachen ließ (der nicht fliegen konnte).“
Im Frühjahr flog sie jedoch mit einem „jungen Graugänserich herum“. Er durfte dem Kanadaganter nicht zu nahe kommen, das heißt, er und die „Gans Nummer 5“ waren nur zusammen, wenn sie aus der Bucht heraus zu ihm flog. Ihr Nest baute sie dann aber „innerhalb der Bucht“ – auf einer Schäre. Während sie mit dem jungen Grauganter unterwegs war, bewachte der alte Kanadaganter ihr Gelege und kümmerte sich dann auch um die Brut, deren Vater er wahrscheinlich war. Sobald die Jungen jedoch fliegen konnten, wurden sie in der Luft vom jungen Grauganter beschützt, vor allem gegen Adler, die damals in Südschweden noch häufig waren und es auf die noch nicht so flugtüchtigen jungen Gänse abgesehen hatten.
Die ersten zwei Jahre flog die „Gans Nummer 5“ mit ihrem Grauganter und ihren Jungen im Herbst nach Spanien, in den darauffolgenden Wintern blieb sie aber mit ihrer ganzen Familie bei Berg. „Da sie die Klügste war, hing alles von ihrer Überlegung und von ihrem Willen ab. Sie hatte das Vertrauen zu mir, weil ich sie großgezogen hatte. Die beiden Ganter folgten ihr, wo sie von sich aus niemals hingegangen wären. Und die Kinder – sie folgten und gehorchten ihr, aber nur ihr“.
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