Die Wahrheit: Brinner forever!
Gastronomie: Ein neuer Essenstrend macht vor gar nichts Halt. Ein Brinner verbindet Breakfast und Dinner und den Morgen mit dem Abend.
Viele Leute fragen sich: Wie kann man seinen Tag sinnvoll herumkriegen und dabei noch ordentlich schmausen?
Natürlich beim Brinner! In den Nullerjahren an der kanadischen Westküste entstanden, erobert der neue „Food-Trend“ (Focus TV), ja der „Mega-Gastro-Hype“ (NDR Info) im Sauseschritt die deutsche Republik. Ein Brinner verbindet Breakfast und Dinner und den Morgen mit dem Abend. Es dauert von 10 bis 18 Uhr, wenn man es sehr eilig hat, besser jedoch drei Stunden länger. Ob allein oder in geselliger Runde, zu Hause oder im öffentlichen Raum: Zahlreiche Cafés und Restaurants haben den Trend bereits aufgeschnappt, vor allem in den Metropolen.
Ein Pionier in Sachen lecker Brinnern ist das „Schmauseloch“, ein verwunschenes, von Efeu umranktes Café in einem Hinterhof von Hamburg-Altona. Hier fallen sie gleich morgens um neun Uhr ein, die Schlemmergäste, vor allem aus dem reichen Westen der Stadt. Hier heißt es Brinnern bis zum Abwinken: Börsianer, Reeder, wohlhabende Witwen und der gesamte hanseatische Geldadel haben hier wieder einen Lebenssinn. Besonders beliebt sind das „Käse-Brinner“ und das „Brinner Montmartre“: zwei Croissants mit Rotwein vollgesogen, Blutwurst-Crepes und zwei Flaschen 45-prozentiger Pastis.
Die Franzosen sagen zum Brinner übrigens déjeudiner, weil die Franzosen eher Frühstück und Hundefutter miteinander kombinieren würden als die französische und die englische Sprache. Auch das „Brinner Berliner Republik“ kommt bestens an, bestehend aus drei Tageszeitungen, einem labbrigen Toast mit Scheiblettenkäse, einem Pulver-Cappuccino mit Amaretto-Flavour, einer Flasche Korn und Koks bis zum Abwinken.
Frisch gepresster Marillenschnaps
Am Exklusivsten ist jedoch das „Candle-Light-Brinner“ mit Frühstückswachtelei, Kaviar auf Marmeladenstulle, einem vitaminreichen Glas frisch gepresstem Marillenschnaps und langstieligen Kerzen – gern genommen von Blankeneser Witwen, die laut schnatternd in Scharen hereinströmen, sich in Trauben um die Tische gruppieren, voller Vorfreude ihre faltigen Hände reiben und das erste Fasanenei köpfen. Oder die erste Likörflasche.
„Andere verplempern ihren Tag – ich brinnere!“, schmatzt auch Günther Hansen, Othmarschener Broker, und leckt sich die biertriefenden Rühreireste von den wulstigen Lippen. „Ja wissen Sie, ob ich zu Hause den Algorithmen beim Arbeiten zusehe oder hier den Tag verschlemme, ist doch eigentlich wurscht! Apropos“, schmatzt er, „schon mal Sülzwurst mit Erdnussbutter probiert? Ein Gedicht!“
Andere Lokalitäten der Stadt setzen auf weniger finanzstarke Gäste. Im einkommensfernen Billstedt im Osten der Hansestadt kann man über Wachteleier und Parmaschinken nur dreckig lachen. Hier ist der Hit das „Brinner Rostock“: neun Nutella-Klappstullen, flankiert von sechzehn Feierabendbier.
Das Klo ist dauerblockiert
Im Studentenviertel rund um die Grindelallee boomt hingegen das preisbewusste „Brinner Erasmus“, ein Potpourri aus Milchcafé, angebranntem Toast und kalten Pizzaresten von gestern.
Und doch, nirgendwo ist es so gemütlich, nirgendwo strömen die Massen so sehnsüchtig herbei wie im Altonaer „Schmauseloch“. Das Klo ist dauerblockiert, vor allem von den Brokern, sodass der afghanische Küchenjunge ständig mit der Klobürste durchschrubben muss. Je später der Tag, desto dreckiger die weißen Tischtücher und die Seemannslieder der Witwen. Hier und da verwechselt eine von ihnen ein Häufchen Koks mit dem Zucker, ansonsten aber ist die Stimmung blendend. Und sagenhaft entspannt.
Tischmanieren sind beim Brinner egal, die einzige Etikette lautet: kein Stress. „Stress hat beim Brinner rein gar nichts zu suchen“, erklärt „Schmauseloch“-Geschäftsführerin Brigitte Paulsen und knabbert genüsslich auf einem Rosinenbrötchen mit Aioli-Füllung. „Wer Stress will, schmeißt ein karges Stehfrühstück ein, packt sich ein olles Brötchen auf die Faust oder bruncht lieblos. Aber er geht nicht zu uns!“
Vom Frühschoppen bis zum Feierabendbier
Tiefenentspannt in den Tag hineinfuttern, so lautet die Devise des Brinners, bei dem nicht nur gefuttert wird, sondern auch zwei weitere abendländische Traditionen – der Frühschoppen und das Feierabendbier – ineinanderfließen zu einem ganztägigen Spaß. Und wenn es Abend wird, wenn die Sonne am Horizont untergeht, sich die Goudascheiben an den Rändern wellen, die Brötchen steinhart sind und jede Zeitung ausgelesen ist, selbst die bekloppte Welt, dann wanken alle glücklich und zufrieden heim.
Zeit für irgendetwas anderes ist dann natürlich nicht mehr. Vielleicht noch ein paar E-Mails lesen. Am besten aber, man wankt zufrieden und vollgefressen ins Bett. Bis zum nächsten Tag, an dem gilt: Sonntagsbrunch ist out, es lebe das Werktagsbrinner!
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!